Giorgio Inaudi
Balme – das Dorf der Bergführer
DAS TAL
The few English mountaineers who have visited the vallys of Lanzo must certainly have been struck by the position of the village of Balme in the val d’Ala, surrounded on all sides by the steep rocky ridges, and dominated by the grand rock wall of the Bessanese which fills the head of the valley.
This was the home of the great Italian guide Antonio Castagneri.

(W.A.B.Coolidge, “Alpine Journal” 1890)

Der Ort Balme erlebte seine Blütezeit im 19. und 20. Jahrhundert, als viele seiner Einwohner den Beruf des Bergführers wählten und die Pioniere des Alpinismus aus Turin und ganz Italien begleiteten, um die höchsten Gipfel der Westalpen zu besteigen. Die Einwohner von Balme waren damals gewissermaßen Helden in einem Epos, was heute noch durch Sammlungen von zeitgenössischen Fotografien, Aufzeichnungen, Plakaten, Andenken, Plastiken und Ausrüstungsgegenständen der Bergsteiger dokumentiert ist. Aber das Museum von Balme möchte uns auch noch die Geschichte einer weiter zurückliegenden Zeit erzählen, einer Zeit, als eine Hand voll Menschen eine Gemeinde im Hochgebirge zu gründen beschloss, in einer großartigen, aber abweisenden und manchmal sogar feindseligen Umgebung, wo der Winter acht Monate dauert, der Schnee manchmal sogar bis an die Fenster reicht, so dass es im Hause dunkel wird, wo das Getreide nicht reif wird und wo das Viehfutter mühselig von den Felsen gerupft werden muss, die bedrohlich über dem Dorf hängen.

Die bisweilen dramatische Geschichte der Gemeinde Balme reicht von der Gründung des Dorfes durch Hirten aus Savoyen über die Einwanderung von Bergleuten aus Bergamo und dem Sesiatal im Mittelalter bis zu dem Zeitpunkt, als die Bergbauaktivitäten in Ermangelung von Mineralien zum Erliegen kamen und die Einwohner als einzige Einkommensquelle auf den Handel im großen Stil mit dem nahe gelegenen Savoyen angewiesen waren.

Da die Einwohner es gewöhnt waren, sommers wie winters schwer beladen mit Reis, Salz, Kaffee oder Tabak die teilweise mehr als dreitausend Meter hohen Gletscherpässe zu überqueren, galten sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, mit dem Beginn der Bergsteigerära, als hoch geschätzte Bergführer. Auch die Pioniere des Skisports entdeckten Balme für sich bereits in den Zeiten, als der Ort nur zu Pferde erreichbar war, und über mehrere Jahrhunderte konnte sich Balme als einer der beliebtesten Touristenorte des Piemont etablieren. Diese goldenen Jahre von Balme gehören längst der Vergangenheit an, aber der Ort bewahrt seinen Reiz für alle, die in den Bergen eine intakte Umwelt und eine urwüchsige und noch immer lebendige Bergkultur suchen. All dies findet sich in Balme heute noch, etwa im Gebrauch der frankoprovenzalischen Sprache und in den dort noch vorherrschenden traditionellen Elementen von Musik, Tanz und Trachten. Von dieser Kultur erzählt das Museum in seiner Ausstellung. Den Museumsbesuch vervollständigt ein didaktisch aufbereiteter Rundgang, der ethnographische und naturkundliche Aspekte abdeckt.

DIE MENSCHEN
Wo die Felsen sprechen

Die Häuser von Balme liegen geschützt am Fuße sehr hoher Felsen. In der Tat stammt der Name des Dorfes von dem frankoprovenzalischen Begriff „bàrmess“, was Schutz unter überhängenden Felsen“ bedeutet. Der Name wurde im 14. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnt, jedoch ist die Siedlung vermutlich noch viel älter. Es gibt Spuren, die daraufhindeuten, dass das Gebiet schon im Neolithikum besiedelt war, wie z. B. der geheimnisvolle, mit Einkerbungen versehene Felsblock (coppelle) von Bogone zeigt, der unzutreffend als Druidenaltar bezeichnet wird. Weitere „coppelle“ dieser Art findet man in unterschiedlichen Größen in vielen anderen Teilen der Gemeinde sowie in den Nachbartälern. In den Felsen von Balme finden sich Hunderte von weiteren Einkerbungen, die uns von Zeiten berichten, die noch nicht so lange zurückliegen. Es sind dies Inschriften von Hirten, meist jungen Burschen, die mit ihren Ziegen oder Schafen die hohe Felswand bestiegen, die Balme überragt. Da sie wegen ihrer sonnigen Lage meist frei von Schnee war, kamen diese Hirten dort vorbei auf der Suche nach bescheidenen, aber für die kurzen Wintertage dennoch wertvollen Weideflächen. Viele dieser Inschriften sprechen eine beredte Sprache über die schwierigen Bedingungen, unter denen die jungen Balmeser damals aufwuchsen, denn diese Inschriften finden sich an abschüssigen und fast unzugänglichen Orten. Sie überliefern Namen und Daten, halten Wetterbeobachtungen fest („Nebel steigt auf, es ist kalt“) oder Lebensweisheiten („Wir alle müssen sterben“). Vielleicht dienten sie auch als Orientierungspunkte bei schlechtem Wetter oder möglicherweise zum Abstecken ihrer Gebiete.

Manchmal greifen die Inschriften uralte ornamentale Motive auf wie etwa die Rosette und das Sonnenrad, die aus der Vorzeit überliefert sind. Die Inschriften werden mit einem Nagel in den Felsen geritzt, wobei die hölzerne Trinkschale, die jeder bei sich trug, die Größe des jeweiligen Kreises vorgab. Vor vielen Jahren wurde unter dem Geröll einer Lawine eine rätselhafte, mit Löchern versehene Scheibe aus Stein gefunden, auf der fünf unterschiedliche Sonnenscheiben abgebildet waren. Andere Inschriften, wie etwa die 1866 von den Brüdern Marinengo Cianin am Crest dou Djinévré durchgepausten, die dann ins Museum gebracht wurden, überliefern die Namen all derer, die in luftiger Höhe einen Übergang über eine Schlucht schufen, die sonst unzugänglich geblieben wäre. Wieder andere Inschriften dokumentieren naive Volksfrömmigkeit wie jene, in der ein Hirte alle im Paradies begrüßt.

Als es das Rad dort oben noch nicht gab

1887 wurde die erste befahrbare Strasse nach Balme gebaut. Zuvor gab es auf dem gesamten Gebiet der Gemeinde Balme keinen einzigen Weg, auf dem Wagen hätten fahren können. Das bedeutet, dass jede Last auf den Schultern der Menschen transportiert werden musste. Der Besitz eines Esels oder Maultiers war Luxus, den sich nur wenige leisten konnten. Seit unvordenklichen Zeiten hatte man Transportmittel entwickelt, mit denen man alle Materialien transportieren konnte, die man in einer auf Ackerbau und Viehzucht beruhenden Subsistenzwirtschaft benötigte. Das Viehfutter wurde in großen Bündeln von 50 bis 100 Kilo, den so genannten courdàiess, auf Holzgestellen, den fraskèri, befestigt, um dann auf den Schultern transportiert zu werden. Für den Transport von schwererem Material wurde ein würfelförmiger Korb mit einer Einkerbung für den Kopf genutzt, garbìn“ genannt. Im Gegensatz zur Hucke la cabàssi, die für den Transport leichterer Güter geeignet war, hatte der Korb den Vorteil, dass man seinen Weg nicht gekrümmt und unter Atembeschwerden gehen musste. Man gebrauchte diesen Korb auch dazu, Mist auszutragen oder jedes Frühjahr damit Erde zu den stark abschüssigen Feldern zu bringen.

Der Schlitten la lìi, fand für den Transport von Dünger, Heu, Holz, aber auch von Steinen, Sand und anderen Baumaterialien Verwendung. Das Modell, das hauptsächlich in Balme gebraucht wurde, erscheint sehr einfach, weist jedoch anspruchsvolle technische Lösungen auf, zumal jede Art Nagelung vermieden und vier verschiedene Holzarten verwendet wurden (Ahorn oder Weide für die Kufen, Esche für die Streben, Lärche für das Gestell, Goldregen oder Haselnuss für die Griffe). So wurde das Gewicht des Schlittens reduziert, ohne jedoch seine Robustheit und Flexibilität zu beeinträchtigen. Die Maße der einzelnen Teile konnten von Ort zu Ort unterschiedlich sein, waren aber das Ergebnis einer jahrhundertelangen Anpassung an einen speziellen Bereich in einer besonderen Umgebung. Dieses radlose Gerät war sehr handlich und erlaubte einem Einzigen 400 bis 500 kg Material zu transportieren.

Der garbìn und der Schlitten sind höchstwahrscheinlich Überbleibsel aus dem Bergbau, der vom Spätmittelalter zum 19. Jahrhundert betrieben wurde. Um die Lasten zu verbinden, verknotete man keine Schnüre, da das Lösen bei Frost und Nässe einfach unmöglich gewesen wäre, sondern man behalf sich mit einem sich selbst blockierenden Mechanismus, die troi, durch den die Schnur fest und kurz gehalten wurde, bei Bedarf aber gelockert werden konnte.

Bergleute aus Bergamo und dem Sesiatal

Die Lanzo-Täler waren vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum des Bergbaus, vor allem für die Eisengewinnung und -verarbeitung. Die Eisenvorkommen befanden sich gewöhnlich hoch im Gebirge, und das Erz wurde mit Hilfe von Schlitten ins Tal geschafft, um dort in den verschiedenen Öfen, die sich in allen drei Tälern befanden, verhüttet zu werden. Das so gewonnene Metall wurde für die Herstellung von Schlössern (in Ceres) und vor allem von Nägeln (in Mezzenile, Pessinetto und Traves) verwendet. Bergmann und Schmied waren technisch anspruchsvolle Berufe, bedeutsam für die Wirtschaft und noch wichtiger für die Politik, da sie Voraussetzung für die Herstellung von Waffen waren, insbesondere für die Artillerie; die ersten piemontesischen Kanonenkugeln wurden in Lanzo gegossen. Außerdem waren die Bergleute, die es gewohnt waren, Stollen zu graben und mit Explosivstoffen umzugehen, gute Soldaten. So förderten die Herzöge von Savoyen immer wieder den Zuzug von hochspezialisierten Arbeitern und Unternehmern aus dem metallverarbeitenden Gewerbe, wie etwa aus dem Sesiatal oder der Umgebung von Bergamo. Von dort stammen auch einige Familiennamen wie Martinengo und Castagneri, die noch immer im Ala-Tal verbreitet sind. Ganze Ortschaften unserer Täler wurden von diesen Einwanderern besiedelt, die für lange Zeit noch ihre eigene Sprache gebrauchten und ihre eigenen Bräuche beibehielten. Die Ortschaft Li Fré bedeutet nichts anderes als „die Schmiede“ und bewahrt die Erinnerung an diese Zeiten. Die Castagneri zogen vom Alatal in verschiedene Dörfer des nahe gelegenen Savoyen, um Eisenbergwerke zu eröffnen und Schmelzöfen zu errichten. Schon bald hatten sie sich als Fabrikanten von tòla ( Blech; ital. lamiera) Ruhm und Reichtümer erworben. Vielleicht stammt Antonio Castagneri tòlaro aus Balme, der in einem Schriftstück erwähnt wurde, das 1993 bei Restaurierungsarbeiten der Kuppel der Basilika von Superga gefunden wurde: 18. Juli 1726. Das Kreuz auf der Kuppel der Basilika, angebracht in Gegenwart von Herrn Pietro Giovan Audifredi di Guarene, Oberaufseher der Fabrik, und von G.B. Moraris, ebenfalls Oberaufseher, und von Antonio Castagneri, Blecharbeiter, sowie von G.B. Canale, Schmied und Hersteller des Kreuzes.

Dank der Eisenindustrie erreichten die Täler einen gewissen Wohlstand, der jedoch seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zurückging, als die Bergbautätigkeit und die Hüttenwerke in Schwierigkeiten gerieten. Dies lag teils daran, dass die Konkurrenz über reichere Erzlagerstätten verfügte, teils auch an der Abholzung der Wälder, da die Schmelzöfen mit Holz befeuert wurden.

Um überleben zu können, musste die Bevölkerung dieses engen und auch felsigen Tals sich nun an die verbliebenen kargen Einkunftsmöglichkeiten anpassen, und zwar an eine mühselige Viehzucht und eine wenig ertragreiche Landwirtschaft im Hochgebirge; denn dies waren die einzigen Alternativen zur Auswanderung.
Damals wandten sich die Einwohner von Balme auch einer weiteren Einnahmequelle zu, nämlich dem Handel mit dem nahe gelegenen Savoyen.

Die Wege der Schmuggler

Der Ort Balme auf piemontesischem Gebiet und der Ort Bessans in Savoyen sind nur wenige Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, aber dazwischen liegt eine Barriere aus Fels und Eis von nie weniger als dreitausend Meter Höhe. Trotzdem stehen beide Gemeinden schon seit Jahrhunderten in engem Kontakt miteinander. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb der Dialekt von Bessans dem von Balme ähnlicher ist als jenem, der in den nahen Dörfern der Haute Maurienne gesprochen wird. Auch heute noch wird es in beiden Ortschaften vermieden, das Wort „Schmuggel“ in den Mund zu nehmen. Stattdessen spricht man lieber von „Handel“ oder „Warenaustausch“. Schließlich gehörten Savoyen und Piemont bis 1860 zum Königreich Sardinien.

Die Gebirgsbewohner überquerten zu jeder Jahreszeit den Pässe Arnàss (3010m) oder Collerìn (3206m), ein gefährlicher Fußmarsch von ca. 8 Stunden, der über steile Felsen und Gletscher voller Spalten führte.
Der Zeit entsprechend wurden die verschiedensten Nahrungsmittel transportiert; früher handelte es sich besonders um Salz aus den Salzgärten der Provence im Tausch gegen Reis aus dem Piemont. Später waren es Tabakwaren, Kaffee, Schokolade, Seidentücher, Olivenöl, Schießpulver und anderes. Das Gewicht des Tauschgutes richtete sich nach den Kräften der Träger und konnte bis zu 60 kg betragen. Man erinnert sich aber auch an einige Trägerinnen, wie die legendäre Gina dij Toùni, Schwester des berühmten Bergführers Antonio Castagneri, die – so wird erzählt – ihre Last von Avérole bis zum Pian della Mussa schleppte, ohne ein einziges Mal anzuhalten und ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

Diese Touren wurden häufig nachts unternommen, um von den Gendarmen nicht erwischt zu werden. In Balme werden heute noch rührselige Geschichten von Unglücken erzählt wie etwa über Angelo Castagneri Barbisìn, der im November 1864 im Alter von gerade zwanzig Jahren in eine Gletscherspalte des Arnàss fiel und erst acht Tage später mit starken Erfrierungen, aber noch lebend gefunden wurde. Ein Jahr später starb er dann an den Folgen der Erfrierungen, zerfressen von Gangränen.

Der Jagdinstinkt

Außer dem Handel mit Savoyen gab es noch andere Gründe für die Bewohner von Balme, hohe Berge zu erklimmen, und zwar sommers wie winters bei jedem Wetter. Die Gebirgsbewohner waren von jeher eifrige Jäger. Früher war die Jagd allerdings eine lebensnotwendige Angelegenheit, um mit dem Fleisch der erlegten Tiere die sonst knappe, ärmliche und einseitige Nahrung zu ergänzen. Das Fleisch der Gämse wurde als Wintervorrat gepökelt und getrocknet (das geräucherte Fleisch wird im Patois „berna“ genannt, aus dem Lateinischen „hiberna“, ursprünglich ein schlichtes Gericht der Bergbauern, das heutzutage mit Schaf- und Ziegenfleisch zubereitet wird). Es wurden auch Murmeltiere gejagt, indem man ihre Bauten zum Einsturz brachte. Das Fleisch gilt in Balme auch heute noch als eine Delikatesse. Das Fett hingegen wurde als ein sehr wirksames Mittel gegen Gelenk- und Gliederschmerzen eingesetzt. Die Steinböcke, die jetzt wieder recht zahlreich zu finden sind, waren früher ihrer Hörner wegen fast ausgerottet worden, da diesen gemahlen wundersame medizinische Kräfte zugeschrieben wurden. Außerdem war der kreuzförmige Knorpel im Herzen des Tieres ein begehrter Talisman. Das getrocknete und in Wein aufgelöste Blut einer Gämse galt als wirksames Kräftigungsmittel. Auch heute noch gibt es Jäger, die diese Tradition aufrecht erhalten und das noch warme Blut des gerade erlegten Tieres direkt aus der Hand trinken. Es ist noch nicht so lange her, da galt das Erlegen des ersten Gamsbocks als eine Art Ritual, um in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Wer danebenschoss, wurde der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Murmeltierjagd war das Vorrecht der Älteren, die auch die besten Plätze reserviert bekamen, wo sie ihre Fallen aufstellen konnten. Diese Fallen, lou gràfi, wurden, wenn die Zeit gekommen war, einem jüngeren Kameraden überlassen. Es war ebenfalls eine Tradition, dass das beste Gewehr im Erbfalle dem besten Freund zufiel. Heutzutage verschwinden diese Traditionen allmählich. Auch die Gamsjagd geht zurück. Sie wird nunmehr durch die Wildschweinjagd ersetzt, da der Wildschweinbestand ständig wächst und folglich auch der Schaden auf Feld und Flur immer zunimmt.

Die Kristallsucher -die Kristallsammlung von Michele Castagneri Mimì
Schon immer wurde in allen Alpentälern eifrig nach den verschiedensten Arten von Kristallen gesucht, die besonders in Moränen oder Felshöhlen vorkommen. Die Bergbewohner (aber für eine Zeit lang auch die Wissenschaftler) waren überzeugt, dass Kristalle besonders im Umfeld der Gletscher zu Tage träten und deren Produkte seien. Im Bergmassiv des Montblanc suchte man vor allem nach Quarzen oder Felskristallen, die dazu dienten, die venezianischen Kronleuchter zu verzieren. Im Alatal hingegen war es mehr der Granat, der gefördert und wegen seiner roten Farbe besonders zur Herstellung von bescheidenen Schmuckstücken (meist Ohrringen) verwendet wurde, welche die Talbewohnerinnen gerne an Festtagen trugen. In jüngerer Zeit wurden die granate (wie die Bergbewohner sie nannten) an Stelle von Rubinen für die Herstellung von Lagern in Präzisionsuhren verwendet. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereicherten besonders schöne Exemplare der Kristalle aus dem Alatal die Naturkundesammlungen. In einigen Familien von Balme (bei den Castagneri) und von Ala di Stura (bei den Alasonatti) wurde der Beruf des Kristallsuchers und -verarbeiters samt ihrer Berufsgeheimnisse von Generation zu Generation weitergegeben. Noch heute gibt es ganze Stapel von Briefen aus dem 19. Jahrhundert von den berühmtesten Naturkundemuseen aus ganz Europa, in denen um Übersendung von besonders schönen Exemplaren gebeten wird. Unter den Kristallsuchern von Balme ist vor allem die Erinnerung an Antonio Castagneri Lentch, Tunìn dou Magìster genannt (1869-1926), lebendig. Der Sohn von Michele Castagneri (1910-1978), Mimì genannt, war viele Jahre lang der Leiter der örtlichen Bergwacht. Er hinterließ eine wunderschöne Sammlung von Kristallen, die er entweder im Alatal gefunden oder durch Tausch erhalten hatte. Seine Sammlung enthält Exemplare aus der ganzen Welt. Diese Sammlung befindet sich heute dank einer Schenkung des Erben Guiseppe Castagneri Piarèt im Besitz des Museums von Balme.

Wir sprechen unsere Sprache (Parlèn a nôstra mòda)
In den Lanzo-Tälern, im Aostatal und in den nahe gelegenen piemontesischen Tälern des Soana, des Orco, des Sangone und im unteren Susatal wird seit mehr als tausend Jahren frankoprovenzalisch gesprochen, eine neulateinische Sprache, die mit vielen lokalen Varianten in einem ausgedehnten Gebiet verbreitet ist, das sich von Lyon über Genf bis nach Susa und Aosta erstreckt. Diese Region, heute politisch zwischen Frankreich, der Schweiz und Italien aufgeteilt, verdankt ihre sprachliche Prägung dem Herzogtum Burgund des Mittelalters. Über Jahrhunderte war es ein Einheitsstaat, das Herzogtum Savoyen mit seiner Hauptstadt Chambéry. Franko- provenzalisch, auch Patois genannt, stellt nicht nur eine Minderheitensprache dar, die als solche unter dem Schutz der Europäischen Union und Italiens steht, sondern bezeichnet auch eine ethnische Gruppe mit einer klar umrissenen kulturellen Identität, die sich in Musik, Tanz, Gesang und Poesie, im Handwerk, in der Vielfalt ihrer Sitten und Gebräuche, im Baustil, in der Art des Ackerbaus und der Viehzucht widerspiegelt sowie in ihrem Umgang mit diesem schwierigen und teilweise feindseligen Lebensraum. Die frankoprovenzalische Kultur ist eine in vielerlei Hinsicht gegenständliche Kultur, die mit dem Land eng verbunden ist und meist mündlich überliefert wurde, aber von der es auch schriftliche Zeugnisse gibt.

Quand que a la sèira l’aria i vint brùnna
E l’prìmess stèiless ou spuìntount an sièl, Ou m’vìnhount an mant, una pr’una Tàntess béless tchòsess, couma d’an vèl.

Tanti ricòrd, ricòrd d’àouti tenss
Qu’ou fant arvìvri lou nòstou passà.
Tanti ou sount bèli, ma que gravatènss! Tanti ou sount brut, qu’est mièi desmentià.

(aus Ricord di Quintino Castagneti-Lentch, 1975)

Wenn am Abend die Luft dunkler wird
und am Himmel die ersten Sterne erstrahlen,
erscheinen in meinen Gedanken viele wunderschöne Dinge

– eines nach dem anderen – ,als wollten sie sich lüften, – als wollten sie ihren Schleier ablegen.

So viele Erinnerungen, Erinnerungen an vergangene Zeiten, die unsere Vergangenheit wieder aufleben lassen;
so viele sind schön – aber welch Nostalgie! –
so viele sind hässlich, so dass man sie besser vergisst.

Das Museum der Völker der Lanzo Täler in Ceres widmet sich der franko- provenzalischen Sprache und Kultur.

Die Kleidung von früher

In den Lanzo-Tälern spielen wie in allen Alpengebieten die traditionellen Trachten der lokalen Kulturen eine sehr wichtige Rolle. Sie werden noch immer bei Dorffesten oder religiösen Feierlichkeiten nicht nur von Folkloregruppen, sondern auch bei besonderen Ereignissen von allen getragen, die so ihre Zuhörigkeit zu ihren jeweiligen Gemeinden unterstreichen wollen.
In der Vergangenheit konnte niemand seine Alltagskleidung frei wählen, sondern sie wurde durch eine Reihe von Verhaltensvorschriften, die vor allem für die Frauen besonders streng waren, innerhalb jeder Gemeinde vorgegeben. Die Tracht zeigte genau, aus welchem Dorf jemand stammte, während andere kleine Besonderheiten über Geschlecht, Alter, Familienstand, sozialen Status, Beruf und manchmal sogar über das Herkommen von einzelnen Gehöften Aufschluss gaben. In Balme wurden die Trachten von allen Frauen und einem Großteil der Männer bis zum Ersten Weltkrieg getragen. Mit dem sehr hohen Blutzoll, den die Talbewohner während des Krieges zu entrichten hatten, begann die Entvölkerung und damit auch ein entscheidender Bruch mit der traditionellen Kultur, deren Ausdruck die Trachten waren. Die Trachten der Frauen ähneln denen in den anderen Lanzo-Tälern. Sie sind gekennzeichnet durch ein langes, an den Hüften eng anliegendes Kleid mit Schürze, einem bunten Schultertuch und einem fast im Nacken getragenen Spitzenkopftuch. Besonders interessant ist das sogenannte „Knotenkreuz“. Es besteht aus drei hängenden Elementen, das eng am Hals an einem Samtband getragen wird. Im Dorf Bessans auf der savoyardischen Seite ist es üblich, dass verheiratete Frauen ein goldenes Kreuz und die unverheirateten ein silbernes Kreuz tragen. Zwei schwarze Seidenbändchen auf dem Rücken zeigten an, dass man verlobt war und bald heiraten würde.

Typisch nur für Balme hingegen ist die Tracht der Männer (la màii dou bort). Sie besteht aus einem schweren, dicken Pullover aus naturbelassener Schafswolle, der vorne mit einer roten Borte gesäumt und reich mit Kreuzstichen verarbeitet war. Dieser Pullover war bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Alltagskleidung der männlichen Bewohner von Balme, danach begann er sich in ein folkloretypisches Element zu verwandeln. Diese Tracht ist heute auch in den anderen Tälern verbreitet. Die Männertracht besteht nach wie vor aus einem aus Hanf gefertigten Hemd, das mit kleinen Falten und Stickereien verziert ist, einer Weste und einem Hut aus Murmeltierleder.

(Bild Seite 14)
Giovanni Castagneri, genannt Gian Giannoùn, und Luisa Castagnerti, 21. Mai 1933

Feste: Musik und Tanz

An langen Winterabenden gab es genug Zeit, um Musik zu machen, während hingegen im Sommer, in der hektischen Zeit von Heuernte und Almwirtschaft, die Gelegenheiten zu musizieren und zu tanzen viel seltener und daher umso willkommener waren. Die Musiker waren sehr gefragt, besonders für die Patronatsfeste der verschiedenen Dörfer, denn nach der Prozession war der Tanz der absolute Höhepunkt. Das gebräuchlichste Musikinstrument war die Geige, oft begleitet von Violoncello oder Kontrabass. Davor hatte es noch andere Instrumente gegeben wie die Drehleier, das Horn, die Schalmei und das Tamburin, wofür es auch Belege gibt in den benachbarten savoyardischen Gebieten und in den anderen Tälern des Piemont. Die Vorherrschaft der Saiteninstrumente hielt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an, bis sich das kleine diatonische Akkordeon, im Dialekt semitoùn genannt, in ganz Europa verbreitete, gefolgt von der chromatischen Ziehharmonika. Mit der Vereinigung Italiens und der Aufstellung der Nationalgarde begann der Siegeszug der Musikkapellen, die wegen ihrer flotten und marzialisch klingenden Musik schnell auf große Begeisterung stießen. Von da an wurde die Kapelle zu einem wesentlichen Element im Leben der Dörfer, die bei jeder öffentlichen Veranstaltung, bei Patronatsfesten, religiösen Feierlichkeiten, Hochzeiten sowie bei Beerdigungen aufspielte.

Die courènda ist ein Volkstanz, der in den frankoprovenzalischen Tälern neben der giga, der bourree, der contradanza, dem rigodon und anderen Tänzen, die in den Westalpen noch verbreitet sind, am häufigsten praktiziert wird, wenn man einmal von dem neu eingeführten Paartanz absieht. Die courènda geht auf höfische Tänze des 16. und 17. Jahrhunderts zurück, die in der Volkstradition erhalten geblieben sind, und hat sich den besonders in konservativen Gegenden gegen alle Neuerungen behauptet. In Balme wird eine besondere Variante der courènda getanzt. Sie ist langsamer und rhythmischer als in den anderen Dörfern der Lanzo-Täler. Zu bestimmten Gelegenheiten führt man den Tanz der sieben Sprünge La Danza dei sette Salti auf, den Tanz der sieben Sprünge, der eine Brautwerbung versinnbildlichen soll. Um 1930 wurde dieser Tanz mit der dazugehörigen Melodie, an die sich heute fast nur noch die ganz Alten erinnern, von einem alten Ehepaar aus Balme an die Jungen von damals überliefert. Dies waren Giovanni Castagneri, genannt Gian Gianoùn (1860-1948) und Luisa Castagneri (1862-1955).

(Bild Seite 15): 25. September 1921: Die Musikkapelle von Balme

Gründonnerstagsbräuche

(le sounàiess)

Seit Generationen gibt es am Abend des Gründonnerstags in Balme einen merkwürdigen Brauch. Die Einwohner nennen ihn „allà sounaìa“ (mit Schellen losziehen und Krach machen). Er wird auch heute noch von den jungen Leuten gepflegt, die auf einer festgelegten Route durch das Dorf ziehen und mit Kuhglocken, Steinbockhörnern und großen Meermuscheln ( im Patois lumàssess, also Schnecken genannt), in die man hineinbläst und so einen tiefen und schaurig klingenden Ton erzeugt, Musik machen. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um einen sehr alten heidnischen Frühjahrsbrauch, der überleben konnte, nachdem er eine Art fromme Umdeutung erfahren und Eingang ins christliche Brauchtum gefunden hatte. Von dem ursprünglichen Brauch sind nur noch wenige Überreste vorhanden.

DIE BERGFÜHRER
Die Geschichte von Antonio Castagneri Tòni dìj Toùni
Vor allem dem Castagneri vertraute ich ohne Bedenken einen meiner Söhne an. Seinen Mut, seine Geschicklichkeit und seine Zuverlässigkeit auch in den schwierigsten Situationen muss ich auf das höchste loben. Ich war äußerstangetan von seiner ständigen Hilfsbereitschaft, die er meinen jungen Mitreisenden entgegenbrachte. Mir gefiel ebenfalls sehr seine lobenswerte und feine Zurückhaltung, die bei anderen, ansonst sehr sachkundigen Bergführern leider nur sehr selten anzutreffen ist.

(Eintrag von Quintino Sella in das Bergführerbuch von Antonio Castagneri – Aufstieg zum Matterhorn, August 1877)
Das Bergführermuseum ist Antonio Castagneri (1845-1890) gewidmet, genannt Tòni dìj Toùni, einem der großartigsten Bergführer aller Zeiten. Guido Rey verfasste über ihn eine viel beachtete Biografie, die das Leben und die Unternehmungen von Antonio Castagneri nachzeichnet, aber der Ruhm von Tòni dìj Toùni hat auch die Landesgrenzen überschritten, wie unter anderem ein Gedenkartikel im Londoner „Alpine Journal“ beweist, den der berühmte Geistliche W.A.B. Coolidge (1850-1926) verfasste, der trotz seiner amerikanischen Herkunft wie kein anderer das britische Bergsteigertum verkörperte und unermüdlich die Gipfel der Alpen erkundete:

„Nur wenige britische Bergsteiger sind mit den Lanzo-Tälern vertraut, die sich von Turin nach Nordwesten bis zur Alpenkette erstrecken, die Italien von Frankreich trennen. Die wenigen aber, die sie gesehen haben, sind beeindruckt und begeistert von der Lage des Dorfes Balme im Alatal, das von allen Seiten von steilen Felswänden umgeben ist und das von der gigantischen Felswand der Bessanese (11.917 Fuß hoch) beherrscht wird, die das gesamte Tal einnimmt. Hier lebte der große italienische Bergführer Antonio Castagneri, der eines der zahlreichen Opfer der schicksalhaften Saison des Jahres 1890 wurde. Mehr als zwanzig Jahrezuvor hatte er den Beruf des Bergführers ergriffen. Die Erkundung der italienischen Berge durch italienische Bergsteiger, unter denen Castagneri einer der Pioniere war, hatte es zuvor noch nicht gegeben. 1867 begleitete er den Grafen Paolo di St. Robert bei seiner berühmten Besteigung der Ciamarella. Aber erst 1873 und 1874 begann er, sich durch eine Reihe von Besteigungen in den Bergen von Cogne (oft in Begleitung von Herrn Barale) einen Namen zu machen. Später erklomm er den Charbonnel (12.237 Fuß), den Herrscher der Alpi Graie Meridionale im Süden. Am Heiligabend 1874 bestieg er (zusammen mit den Herren Martelli und Vaccarone) den Uja di Mondrone (9.725 Fuß), eine felsige Bergspitze oberhalb von Balme. Dies war die erste Gipfelbesteigung im Winter, die von italienischen Bergsteigern durchgeführt wurde. Im darauffolgenden Jahr führte er im Triumphzug die Bergsteiger der Seilschaft des Herrn Vaccarone in das Gebiet von Cogne und der Levanne, galt es doch, neben den anderen Besteigungen den Gran Paradiso von der schwierigen Seite des Gletschers aus, der an Noaschetta grenzt, zu bezwingen sowie den felsigen Turm des Becco della Tribolazione zu erklimmen.

Damit etablierte sich Antonio Castagneri in der Spitzengruppe der italienischen Bergführer. Man kann sogar sagen, dass er den Spitzenplatz eingenommen hat unter jenen italienischen Bergführern, die sich zur Gänze den Bergen der Heimat verschrieben haben. Die meisten seiner Aufstiege erfolgten in Reichweite seines Tals. Es gibt keinen Gipfel, den er nicht als erster erklomm oder den er nicht über einen neuen Aufstieg erreichte (…). Ich persönlich hatte leider nie das Glück, ihn als Bergführer zu erleben, aber ich bin ihm oft in den Bergen begegnet. Das erste Mal, war dies 1883 in Balme und danach fast jeden Sommer. Das letzte Mal als ich ihn sah, war er auf dem Gipfel des Finsteraarhorn in Begleitung seines Freundes Maquignaz, mit dem er zusammen verunglückte. Ich erinnere mich gut daran, wie er erstaunt die vielen hohen Gipfel und die großen Gletscher bewunderte. Alles war sehr neu für ihn, während der junge Christian Almer ihm sogar sein Haus im grünen Tal von Grindelwald zu ihren Füßen zeigen konnte. Ein Mann von großer Körperkraft und Entscheidungsfreudigkeit, war er vor allem ein Kletterer. Er war von den mächtigen Steilhängen geprägt, die seinen Geburtsort umgeben.. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen widmete er sich jedoch mit viel Eifer auch dem Eisklettern, wenn auch seine Vorliebe dem Felsenklettern galt. In der Liste der Erstbesteigungen von Herrn Vaccarone steht der Name Castagneri mit 40 Erstbesteigungen an dritter Stelle (Christian Almer der Jüngere und sein Vater übertrumpfen ihn mit 69 und 66). Er steht mit Abstand an erster Stelle unter seinen italienischen und französischen Kollegen, wobei Maquignaz ihm mit 31 Erstbesteigungen folgt. Auch wenn ein jeder Trauer verspürt bei der Nachricht, dass ein großer Bergführer den Tod in den Bergen gefunden hat, erkennt man doch einen gewissen Sinn darin, dass ein Mann wie er in den Bergen, die er sein ganzes Leben lang geliebt und bestiegen hat, schließlich den Tod fand. Genauso wie Antonio Castagneri in den Herzen aller weiterleben wird, die ihn gekannt haben, so sehr ist zu hoffen, dass der „Passo Castagneri“ (Castagneripass) auch in künftigen Generationen weiterlebt. Als ich vor genau einem Jahr auf dem Gipfel des Rocciamelone in den Abgrund schaute, der sich zwischen mir und dem Gletscher Derrière le Clapier auftat, fragte ich mich, wie es wohl Castagneri geschafft haben könne, diese Abgründe zu überwinden. Da dachte ich gewiss noch nicht daran, dass ich bald schon eine Gedenkschrift über diesen Mann zu verfassen hätte, den seine Freunde mit Zuneigung und Stolz Toni di Toùni nannten. Er war damals fünfundvierzig Jahre alt und hinterlässt eine junge Witwe mit vier kleinen Kindern ohne jegliche Versorgung. Ich werde nur zu gerne die Verantwortung dafür übernehmen, Spenden für ihren Lebensunterhalt zu sammeln und ihnen zukommen zu lassen.

In Balme kann man diese Gedenktafel an der Längsseite der Kirche lesen:

ANTONIO CASTAGNERI GUIDA VALENTE
DELLE ALPI ARDITO ESPLORATORE COMPAGNO DESIDERATO

DAGLI ALPINISTI
SUI GHIACCI DEL MONTE BIANCO SORPRESO DA VIOLENTA BUFERA IL 18 AGOSTO 1890
PERÌ VITTIMA DEL DOVERE
AI PIÈ DELLE BALZE NATIE
DOVE SI ADDESTRÒ AI PIÙ ARDUI
CIMENTI
LA SEZIONE TORENESE
DEL CLUB ALPINO ITALIANO QUESTO RICORDO POSE
ADDÌ 24 MAGGIO 1891

ANTONIO CASTAGNERI
TAPFERER BERGFÜHRER
KÜHNER ERFORSCHER
GESCHÄTZTER KAMERAD DER BERGSTEIGER WURDE AUF DEM EIS DES MONTBLANC
AM 18 AUGUST 1890
VON EINEM
HEFTIGEN UNWETTER ÜBERRASCHT
WURDE OPFER SEINES PFLICHTEIFERS
UND STARB AM FUSSE DER STEILHÄNGE SEINER HEIMAT WO ER SICH AN DEN GRÖSSTEN WAGNISSEN ÜBTE DIE SEKTION TURIN
DES ITALIENISCHEN ALPENVEREINS
HAT DIESE ERINNERUNGSTAFEL AM
24. MAI 1891 AUFGESTELLT

Schon mancher hat die Worte über Tòni dij Toùni mit jenen verglichen, die sich auf den ersten Seiten des Meisterwerkes von Melville finden, in denen an die Walfänger von Nantucket erinnert wird, die in Ausübung ihrer Tätigkeit in den Weiten des Ozeans ihr Leben ließen. Dies ist ein Seeleute und Bergsteiger gleichermaßen ereilendes grausames Schicksal, dem die Bewohner dieser extremsten Punkte der menschlichen Gesellschaft mit dem gleichen Fatalismus begegnen.

(Bild Seite 17)
Antonio Castagneri (Dritter von links) vor der Eingangstür der Gastaldihütte ca. 1880 (Bild Seite 18
Die drei Opfer der Katastrophe am Montblanc

Der Besuch der Bergführer beim Bergsteiger-Papst

Die Bergführer der Lanzo-Täler hatten auch berühmte Kunden, unter ihnen sogar den lombardischen Geistlichen Achille Ratti (1857-1939), der als Pius XI., von 1922- 1939 Papst werden sollte. Der junge Ratti war ein erfahrener Bergsteiger, der später den Montblanc bezwang und auch Erstbesteigungen aller Schwierigkeitsgrade bewältigte. Er war oft in den Bergen der Lanzo-Täler, an die er sehr gerne zurückdachte, obwohl erzählt wird, dass ein Priester aus Savoyen ihm die Erlaubnis, eine Messe zu feiern, verweigerte, da er nicht überzeugt war, dass es sich bei ihm tatsächlich um einen Priester handelte, weil er in bürgerlicher Kleidung reiste. Als Ratti Papst wurde, lud er die Bergführer, die ihn in seiner Jugend begleitet hatten, nach Rom ein. Sie erschienen aus der ganzen Südalpenkette zur Audienz, wie es damals üblich war, in voller Montur komplett mit Seilen und Pickeln. Die Führer aus Balme, Ala und Usseglio wurden auf dieser Reise von Eugenio Ferreri (1892-1946), selbst Bergsteiger und Bergführer, begleitet. Eugenio Ferreri hatte nicht nur viele Bücher über die Bergwelt verfasst, er war auch Generalsekretär des CAI (Club Alpino Italiano). Nach ihm ist eine Schutzhütte im großen Lanzo-Tal benannt.

(Bild Seite 19)
Vatikan, 26. Juli 1929 Apostolischer Segen für den Bergführer Michele Bricco, genannt Minassét.

Das Werkzeug

Die Bergsteiger überquerten die Gletscher ursprünglich nicht mit Hilfe des Eispickels, sondern mit der „cravìna“, einer Art Alpenstock, also einem beschlagenen Stock mit Dreispitz. Die eine Spitze ragte senkrecht heraus, die anderen beiden waren in Form eines Hakens angeordnet. Es handelte sich eigentlich um ein Jagdgerät, das dazu diente, Füchse und Steinmarder aus ihrem Bau herauszutreiben, vor allem aber umMurmeltiere während ihres Winterschlafs auszugraben. Die cravìna wurde auch von all denen gebraucht, die mit Savoyen Handel trieben, um beim Abstieg der steilen Firnfelder langsamer bzw. sicherer laufen zu können, eine Technik, von der heute in Bergsteiger-Handbüchern abgeraten wird, die aber bei Eile und schwerer Last durchaus hilfreich sein kann.

Man setzt sich auf die Fersen, stützt das ganze Körpergewicht samt der Last auf die cravìna und gleitet los und beeinflusst die Geschwindigkeit durch einen stärkeren oder schwächeren Druck auf den Stock. Für den Aufstieg gab es hingegen die sérquiou, eine Art von Schneeschuhen, die früher in den Hochtälern weit verbreitet waren. Sie waren eine Weiterentwicklung des herkömmlichen Modells, bestehend aus einem mit Stricken bespannten Holzrahmen, der dazu diente, sich auf sehr steilem Gelände fortzubewegen. Die sérquiou waren vollständig aus Holz gefertigt, wobei die Stricke durch Holzbrettchen ersetzt wurden. Auch war der Rahmen nicht rund, sondern wurde aus einer Eschenholzleiste hufeisenförmig gebogen. Die sérquiou sind somit wesentlich robuster als die herkömmlichen Schneeschuhe und ermöglichen es, dass man mit der Schuhspitze bis an den vordersten Rand des Schneeschuhs gelangen kann. Dies war wichtig, um im steilen Gelände Stufen in den harten Schnee schlagen zu können. Die sérquiou dürfen nicht mit den treppenförmigen Schneeschuhen (stchalàt genannt) verwechselt werden. Zwar ist auch dieser Schuh aus Holz gefertigt, allerdings ist seine Form rechteckig und dient lediglich dazu, Schlittenpisten fest zu treten. War der Schnee jedoch sehr hart oder erschien das grässliche schwarze, glasharte Eis, wurden die gràppess (oder grepìn) angezogen. Das waren einfache Steigeisen mit vier oder sechs Spitzen, die auch auf sehr steilen grasbewachsenen Hängen Verwendung fanden. Die Ausrüstung der Träger umfasste auch eine Tragbahre, garbìn genannt, ein Holzgestell mit robusten Tragriemen zum Transport von Lasten, die selten unter 30 Kilo, meist 50 Kilo und mehr wogen. Im Museum finden sich noch Teile einer solchen Tragbahre, die 1990 in etwa 3000 m Höhe nach dem Rückgang des Gletschers in der Nähe des Col d’Arnass zum Vorschein kam. Es handelt sich vermutlich um Überreste eines Unfalls, der in Vergessenheit geraten ist.

Ohne Bergstiefel und Schneebrille

Schuhe waren für die Talbewohner ein Luxus, und beschlagene Bergstiefel wurden erst relativ spät eingeführt. Zuvor waren Holzpantinen gebräuchlich – auch sie genagelt -, während es durchaus auch üblich war, manchmal sogar im Schnee barfuß zu gehen. Vor schwierigen Passagen auf glatten und steilen Felsen urinierte man auf die eigenen nackten Füße, damit die feuchte Haut einen besseren Halt auf dem trockenen Stein bot. Die Bergsteiger ließen sich einige Nägel extra an ihren Schuhen anbringen, bevor sie sich auf eine sehr schwierige Tour begaben. In Balme gab es deswegen verschiedene Schuster, einer von ihnen Fedele Castagneri, genannt Grisèul (1884-1951). Er selber war auch Bergsteiger und machte später sein Glück in Turin als Schuhmacher für hochwertige Schuhe und belieferte sogar den italienischen Alpenverein CAI. Die dafür verwendeten Nägel, meist im unteren Tal produziert, waren unterschiedlicher Art (Nägel für Reißzwecken, zum Beschlagen der Sohlen, die tricoùni …) Die klassische Nagelung wurde später bei den ersten Vibram- Gummisohlen wieder aufgenommen, die allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg hergestellt wurden.

Die Reflexion des Sonnenlichts auf dem Schnee führte oft zu Augenentzündungen, die nicht selten die alten Bergsteiger nahezu erblinden ließ. Vor der Einführung der Schneebrille war die einzige Vorsichtsmaßnahme das Schwärzen des Gesichts in der Augengegend mit einem verrußten Korken.

(Bild Seite 21:) bei einem Aufstieg mit Eispickel und cravìna, ca. 1880
Beschreibung Bild + Text Seite 22: Wir haben zwei Nagelungsarten abgeschafft, die auf Seite 4 des „Leitfadens für den angehenden Bergsteiger“ beschrieben werden, und haben sie durch zwei neue Arten zum gleichen Preis ersetzt. Wir bieten zunächst eine Darstellung des Hochgebirgsschuhs. Die Krummnägel sind paarweise angeordnet und können nicht verrutschen und bieten gleichzeitig sicheren Halt.
Bild Seite 22: Anzeige für einen Bergstiefel, ca. 1920

Bergführer und Feriengäste

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg trennte eine tiefe soziale Kluft die Bergbewohner von den Touristen, welche die Täler besuchten und zumeist der Aristokratie oder dem Bürgertum angehörten. Obwohl die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bergbewohner denen der Arbeiterklasse aus den städtischen Zentren glichen, waren erstere dennoch Träger einer Kultur, die im Wesentlichen von der Gleichheit aller Menschen ausging und sich den wohlhabenden Feriengästen aus der Stadt in keiner Weise unterlegen fühlten. Es gelang ihnen, eine direkte Beziehung von Gleich zu Gleich herzustellen. Auch wenn die Bergführer, mit dem Hut in der Hand, die Bergsteiger bei der Ankunft des Postbusses erwarteten, waren doch sie es, die sich dort auskannten und schon deshalb die Stärkeren waren. Zwar teilten sie mit ihren Kunden das Lager, das Essen und alle Entbehrungen, aber sie waren es, welche die Seilschaften anführten. Viele Bergsteiger waren tief beeindruckt von der Unbefangenheit, mit der sich die Bergbewohner in einem für sie so feindlichen Umfeld bewegten, und von der Sicherheit, mit der sie an Schwierigkeiten herangingen, mit denen sie nie fertig geworden wären. Die Touristen waren sogar geneigt, in den Bergführern alle aus der Romantik überlieferten Bergsteigertugenden verkörpert zu sehen. Es konnte sich sogar zwischen Bergführer und Kunde (und ihren Familien) eine enge Beziehung bis hin zur Freundschaft entwickeln, welche die Zeiten überdauerte. Das wäre in der Stadt zwischen Menschen so unterschiedlicher Herkunft undenkbar gewesen. Nicht selten waren die Feriengäste fasziniert von der ärmlichen, aber lebendigen und unverfälschten Kultur. Die Männer und Frauen liebten es, sich fotografieren oder sich in traditionellen Trachten des Ortes porträtieren zu lassen, und zeigten ein lebhaftes Interesse an den einheimischen Sitten und Gebräuchen. Andererseits vermittelte der Aufenthalt der vielen Feriengäste den Bergführern wie auch den anderen Bewohnern der Hochtäler ein gewisses Maß an Erziehung und Bildung. Dies setzte die Gäste in Erstaunen, wie auch die herzliche Zuwendung, die ihnen entgegengebracht wurde. Noch heute ist die Meeresmuschel in Balme zu sehen, aus der Geb dìj Toùni den Damen bei seiner Gebirgswanderung zu trinken gab. Es wird aber auch an die Unarten früherer, noch ungeschliffenerer Bergführer erinnert, wie etwa an Tìta Bric, der ungeniert seinen speckigen Hut am Brunnen füllte.

(Bild Seite 23 Eintrag des Rechtsanwalts Domenico Riccardo Peretti-Griva in das Bergführerbuch von Michele Bricco, genannt Minassét.

DIE SKILÄUFER
1896: Adolfo Kind fährt auf Skiern von Balme hoch zum „Pian della Mussa“
Die Alpenbewohner bewegten sich im verschneiten Gelände entweder auf Schlitten oder Schneeschuhen. Die Skier hingegen, ursprünglich aus Norwegen stammend, wurden von den Touristen eingeführt und von den Einheimischen erst viel später als Fortbewegungsmittel akzeptiert.
Der Skipionier Italiens war Adolfo Kind, ein Schweizer Ingenieur, der in Turin wohnte und begeisterter Bergsteiger war. Er ließ sich aus seiner Heimat einige Paar „Sky“ schicken, die er auf den Hügeln um Turin ausprobierte und mit denen er bald seine ersten alpinen Abfahrten in den nahe gelegenen Tälern von Susa, des Sangone und des Lanzo machte. Wo und wann er seinen ersten Aufstieg unternahm, ist im Grunde genommen unerheblich, aber zufällig liegen darüber präzise Aufzeichnungen vor, und zwar durch den Oberleutnant der Bergartillerie Luciano Roiti, der Kind bei diesem Abenteuer begleitete und darüber einen Bericht in „L’Esercito Italiano“ vom 12. März 1897 veröffentlichte.
„ Als ich von Balme in den Lanzotälern zum Piano della Mussa aufbrach zusammen mit meinen beiden Freunden, dem Ingenieur Kind und seinem Sohn, konnte ich zum ersten Male die außerordentliche Nützlichkeit dieser Schuhe erproben. Auf dem Schnee lag eine Eisschicht, über die man nicht hätte zu Fuß gehen können, und obwohl wir noch ziemlich unerfahren waren auf diesen „Sky“, schafften wir es, diesen Weg in weniger als einer Stunde zurücklegen und hinterließen dabei kaum Spuren. Ein anderes Mal, nämlich am 24. Januar, überquerten wir unter ganz anderen Schneebedingungen den Gebirgsläufer, der das Sagonettotal vom Susatal trennt. Wir starteten in Borgone (398m über dem Meeresspiegel), folgten dem Grat bis zu den Häusern von Mongirardo und erreichten schließlich den Grat des „Monte Salauria“ in einer Höhe von 2085m. Von dort aus fuhren wir nach Giaveno hinab. Meiner Meinung nach ist es eine bemerkenswerte Sache, dass derjenige, der die Gruppe anführte, den Schnee unter großen Anstrengungen zu einer Spur zusammendrücken musste, um den Weg zu bahnen. Die beiden anderen hingegen konnten fast mühelos dieser Spur folgen und ließen dazu noch eine feste Spur hinter sich, die meiner Meinung nach problemlos zu Fuß von anderen hätte bewältigt werden können. Und ich will nicht verhehlen, dass mir dabei mein Beruf als Soldat in den Sinn kam und ich mir vorstellte, wie unsere Geschütze auf geeigneten Schlitten befestigt, uns hätten folgen können.“

(Bild Seite 24:) Skifahrer auf dem Weg zum Pian della Mussa, ca. 1910

(Bild Seite 25:) Mitglieder der faschistischen Jugendorganisation Balilla, ca. 1930

Pietro Castagneri, genannt „L’Aria“, der Skilangstreckenläufer, der “schnell wie der Wind”war
Als die ersten Skier in Balme auftauchten, beobachteten die Einwohner mit ungläubigen Erstaunen, wie die ersten Skiläufer sich bewegten, ihre Übungen machten und wohl auch schwere Stürze erlitten. In den folgenden Jahren aber gab es doch den einen oder anderen aus der Gegend von Balme, der an dieser Sportart Gefallen fand. Während des Ersten Weltkriegs bot sich vielen Jugendlichen, die zu den Alpini, denGebirgsjägern eingezogen wurden, die Gelegenheit, ins Skifahren eingeführt zu werden, und wer den Kampf in den Schützengräben überlebte, wie etwa Pietro De Matteis, genannt Nissòt, Andrea Castagneri, genannt Bràc, Fransceco Mantero, genannt Càtchiou, nahmen mit Begeisterung an den ersten Wettkämpfen teil. Der Stärkste von allen war Pietro Castagneri, genannt L’Aria ,der Wind (1906-1967), weil er schnell wie der Wind war. L’Aria wurde mehrere Male italienischer Meister, aber woran man sich vor allem in Balme erinnert, ist seine Großtat vor Ort:

Anfang der 30er Jahre wird ein Athlet aus Bardonecchia von einem Gegner aus Valtournanche beschuldigt, während eines Wettkampfes ein Stück des vorgeschriebenen Weges abgekürzt zu haben. So etwas scheint damals öfter vorgekommen zu sein. Die beiden bestanden auf einer Wiederholung und wählten dafür die Berge von Balme als Austragungsort. Ein großer Wettkampf wurde ausgerichtet, und alle waren gespannt, wer von beiden wohl Sieger werden würde. Als Erster durchs Ziel fuhr jedoch L’Aria, der so schnell war, dass die Wettkampfrichter noch nicht einmal das Zieltor aufgestellt hatten, als er ankam. Hinter dem Tresen des „Caffé Nazionale“, das bis heute noch von der Familie des Siegers geführt wird, stehen immer noch lange Reihen von Pokalen und Medaillen, die an seine Großtaten erinnern.

(Bild Seite 26:) Von links: Pietro Castagneri, genannt l’Aria, Pietro Dematteis, genannt Nissòt, und Andrea Castagneri, genannt Bràc, ca. 1925

Skiclubs, Trophäen und Sprungschanzen

Um die Skiläufer unterbringen zu können, entstanden in Balme Hotels und Gasthöfe, die wie einige Berghütten, z.B. im Pian della Mussa, auch im Winter geöffnet waren. Zu dem wachsenden erfolg des Skisports trugen auch einige damals gegründete Vereine, wie der „Verein Junger Turiner Ausflügler“ – UGET (Unione Giovano Escursionisti Torinesi). Der besonders beliebt war, bei den in die Stadt gezogenen Bergbewohnern/Berglern und es gab den Verein SARI (Sunt Alpes Robur Iuvenum), in dem sich vor allem Studenten zusammenfanden, und der in der auf dem Gebiet der Gemeinde Balme bei den “Legi Verdi“ eine heute allerdings nicht mehr existente Schutzhütte/Berghütte errichtet hatte. Auch das faschistische Regime, das aus ideologischen Gründen den Sport förderte, vor allem im Rahmen von Parteiorganisationen, trugen maßgeblich zur Verbreitung des Skisports unter Bergbewohnern und Arbeitern bei und war so nicht mehr nur einer wohlhabenden Minderheit vorbehalten. Bald wurde in Balme ein Skiclub gegründet, in dem die Mitglieder anfänglich noch die örtliche Tracht trugen, den „Máii dou bort“, später dann die abgetragenen Trikots von Fußballspielern, die der Sportarzt Professor Borsotti von „Juventus Turin“ besorgte. Borsotti war auch Eigentümer einer schönen Jugendstilvilla am Rande des Dorfes.

Da es noch keine Skilifte gab, wurde der Skilanglauf und das alpine Skifahren dem Abfahrtslauf vorgezogen. In der Zwischenkriegszeit /in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen kämpfte man oft um die zahlreichen, eindrucksvoll aussehenden Trophäen, die gemeinhin als sehr wertvoll galten. Weite Verbreitung fanden damals einige Wintersportarten, die heute nur noch reine Wettkampfsportarten sind, wie etwa Bob fahren, Rodeln und Skispringen. Die Bobbahn von Balme war auch die Hauptstrasse des Ortes, auf der der Schnee nur zur Hälfte geräumt wurde, um dort das Schlittenfahren zu ermöglichen. In der Nähe des Dorfes sind heute noch Überreste von zwei Skischanzen zu sehen. !949 wurde in Balme der Skilift Pakinó errichtet, der erste in den Lanzo-Tälern.

(Bild Seite 27:) Siegerehrung nach einem Skiwettkampf im Hotel Cammussòtt. Eugenio Ferreri (Mitte) im Kreis der Bergführer von Balme.

Der Bergrettungsdienst

Die Hüter der Berge: Ehrenamtliche der Bergwacht /die Freiwilligen des Bergrettungsdienstes
Alles, was mit dem Bergtourismus in Balme zusammenhing, verzeichnete in den Zeiten zwischen den Kriegen einen allmählichen Rückgang. Die Ausweitung des Fahrzeugverkehrs erleichterte die Erschließung anderer Alpenregionen des Piemont und des Aostatals. Nach und nach verlor der Beruf des Bergführers an Bedeutung. Teils lag es daran, dass das Bergsteigen ohne Führer immer beliebter wurde, was wiederum darauf zurückzuführen war, dass diese Sportart in der Mittelschicht und Arbeiterklasse immer mehr Verbreitung fand.
Ganz allmählich wurden immer mehr der einstigen Bergführer zu bloßen Hüttenwarten.
Zusätzlich trugen die neuen Bestimmungen des CAI (Club Alpino Italiano) dazu bei, dass die Bewohner von Balme diesem Beruf den Rücken kehrten. Diese Bestimmungen verlangten, dass für den Beruf des Bergführers Ausbildungslehrgänge besucht werden mussten. Diese wegen des technischen Fortschritts beim Bergsteigen leicht verständliche Notwendigkeit ließ sich aber nur schwer mit dem Individualismus der Bergbewohner in Einklang bringen.

Nach dem zweiten Weltkrieg gab es in Balme gerade noch sechs aktive Bergführer. Der Niedergang der Bergführertradition bedeutete indes jedoch nicht, dass die Einwohner von Balme etwa ihre althergebrachte Rolle als Hüter und Wächter ihrer Berge aufgegeben hätten. Was ihnen immer bleibt, ist das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit in einer besonders unzugänglichen Hochgebirgslandschaft zu befriedigen, wo es viele Arten von Touristen, vom Ausflügler bis zum ernsthaften Bergsteiger, gibt und wo es leider nicht selten zu Unfällen kommt.

Aus diesem Grund wurde zu Beginn der fünfziger Jahre der alpine Bergrettungsdienst, die Bergwacht, ins Leben gerufen. Schon vorher hatte es Freiwillige in einigen Sektionen des CAI gegeben, die in Schichten Wache hielten und bereit waren, bei Notfällen und Notsignalen sich umgehend auf den Weg zu machen. Aus diesen spontanen Initiativen entstand eine Organisation, die 1954 auf nationaler Ebene anerkannt wurde. In den Dörfern unten im Tal wurden oft von ortsansässigen Freiwilligen kleine Stationen eingerichtet und mit der notwendigen Ausrüstung für Notfälle ausgestattet. Die Station von Balme war eine der ersten; sie entstand auf Initiative eines dort ansässigen Bergsteigers und Kristallsuchers, Michele Castagneri, genannt „Mimi“ (1910-1976). All das war die natürliche Fortsetzung einer Tätigkeit, die schon immer von den Bergbewohnern ausgeübt worden war, nämlich Vermisste zu suchen, Verletzten erste Hilfe zu leisten und Tote zu bergen.
In den siebziger und achtziger Jahren nahm der Leiter der Bergwacht Bruno Molino (1930-1984) seinen Dienst auf. Er war ein begeisterter Bergsteiger aus Turin, der sich in Balme niedergelassen hatte. Molino war maßgeblich an vielen Rettungseinsätzen beteiligt, die einen besonders hohen Einsatz verlangten. Als er 1984 in den Bergen verschwand, wurde eine kleine Zufluchtsstätte am Hang des „Uja di Mondrone“ nach ihm benannt. Auch der Einsatz von Helikoptern in jüngster Zeit macht die örtlichen Einsatzkräfte nicht entbehrlich, da sie über die besten Ortskenntnisse verfügen und die einzigen sind, die weit von der Basisstation entfernt Hilfe leisten können.

Die Einwohner von Balme sind Erben einer Bergtradition aus der Zeit ihrer Vorväter, die zuerst im Bergbau tätig waren, dann zu Zeiten des Handels mit Savoyen Wächter der Bergpässe und schließlich mit dem Aufkommen und der Blüte des Bergsteigens Bergführer wurden. Heute führen sie die Traditionen ihres Dorfes fort und leisten durch die Bergwacht (Nationales Bergrettungskorps) einen wertvollen und unersetzlichen Beitrag für die Gesellschaft.

Die Gemeinde Balme, die zu Beginn des dritten Jahrtausends weniger als hundert Einwohner zählt, kann eine höchst leistungsstarke Mannschaft Freiwilliger aufbieten, die in der Lage ist, jederzeit unter beschwerlichen, oft schwierigen und manchmal gefährlichen Umständen wirksame Rettungseinsätze durchzuführen. Fast alle fähigen Männer und auch Frauen nehmen von jung an bis ins hohe Alter an Rettungseinsätzen teil. Sie tun dies aus der Überzeugung heraus, nur eine Pflicht zu erfüllen, wie dies schon immer der Fall war und zwar in jedem Tal für die Bewohner der höchst gelegensten Ortschaften, den letzten Zufluchtsorten der Menschen auf dem Weg zu den Gipfeln. Noch nie haben sie für ihre Dienste je etwas verlangt.

DAS DORF
Die Pfarrkirche von Balme (La Djésia d’Bàrmers)
Den wahrscheinlich ältesten Kultort des Dorfes stellt die sogenannte Capella della Sindone (Kapelle des Heiligen Grabtuchs) dar, ein schlichter Bau, den man bis heute besichtigen kann und der sich gegenüber dem befestigten Haus „Routchas“ befindet, das schon im 15. Jahrhundert existierte. Als 1612 die Pfarrei von Balme eingerichtet wurde und man daraufhin die erste Pfarrkirche von Balme erbaute, wurde die Kapelle (Capella della Sindone) zweckentfremdet und als Stall benutzt. Diese Pfarrkirche war natürlich viel höher gelegen als die heutige. Es handelte sich damals sicherlich um einen sehr bescheidenen Bau, von dem nichts mehr erhalten ist außer dem Stein, datiert 1619, der das Kreuz auf dem Glockenturm trägt. Die gegenwärtige Kirche ist der „Heiligen Dreieinigkeit“ geweiht. Erzbischof Franscesco Luserna Rorengo die Rorà war bei seiner Visite im Jahre 1769 so bewegt von der Armut, in der die Bevölkerung von Balme lebte, dass er ihnen diese Kirche zum Geschenk machte. Die Pfarrei war schon damals die höchstgelegene in der Diözese/im Bistum Turin. Für die neue Kirche wählte man eine damals noch unbewohnte Stelle aus, die auch gleichzeitig Schutz vor Lawinen bot, die von dem Felssporn der Barma immer wieder abgingen. Für den Bau musste seiner Zeit eine Seite des Berges ganz abgetragen werden, und die gesamte Bevölkerung beteiligte sich eifrig an den Arbeiten. Die Kirche, die in Form eines griechischen Kreuzes und in schlichtem Barockstil gehalten ist, wurde 1775 geweiht. Sie trägt noch heute über dem Portal das Wappenbild des Erzbischofs Luserna und eine Gedenktafel.

Im östlichen Teil der Kirche wurde die Wohnung des Pfarrers eingerichtet, der, um in die Sakristei zu gelangen, nur eine kleine Treppe hinunter zu gehen brauchte, ohne dabei ins Freie treten zu müssen. Dies war vor allem bei starken Schneefällen von Vorteil.

Auf der gegenüberliegenden Seite, in Richtung Ortmitte, wurden damals Räumlichkeiten geschaffen, in denen heute Sammlungen des Bergführermuseums aufbewahrt werden. Früher dienten diese Räume als Schule, der Pfarrer war oft auch der Lehrer, oder als Sitz der Gemeindeverwaltung. Später hatte auch die Musikkapelle von Balme hier ihre Vereinsräume.

Bild Seite 30: Die Pfarrkirche von Balme ca. 1902

Die Capella di Sant’Anna

(Tchapèla d’Sant’Ana)
Die Cappella di Sant’Anna (die Heilige Anna ist die Schutzpatronin des Vorortes Cornetti) wurde bereits 1674 erwähnt, doch der Bau in seiner gegenwärtigen Gestalt geht auf das Jahr 1811 zurück. Die Verehrung der heiligen Anna, der Mutter der Jungfrau Maria, ist in den Hochtälern sehr stark verbreitet und geht möglicherweise von den „Matres“ oder den „Matronae“ aus, von Gottheiten keltischen Ursprungs, von denen sich Spuren an verschiedenen Orten der Alpenkette finden.
In der Kapelle sind interessante Votivtafeln erhalten, beeindruckende Zeichen der Volksfrömmigkeit vom 16. Jahrhundert bis fast in unsere Tage, die Geschichten von Wunderheilungen, überstandenen Gefahren, Unfällen und Kriegen dokumentieren. Einige von ihnen, wie die Votivtafeln, die den göttlichen Beistand bei der Heilung kranker Kühe zeigen, dokumentieren eindrücklich das tägliche Leben in Balme/ vermitteln Eindrücke vom täglichen Leben in Balme in den vergangenen Jahrhunderten, besonders in Bezug auf /über das )das Zusammenleben von Mensch und Tier.
Das Fest der „Heiligen Anna“ wird am letzten Sonntag im Juli gefeiert mit einer feierlichen Prozession die von der Pfarrkirche ausgeht. Fast die ganze Bevölkerung des Ortsteils und auch viele Auswanderer, die extra für diesen Anlass in ihr Dorf zurückkommen, feiern dieses Ereignis.
Die Statue der Heiligen wird von Mädchen des Orts getragen, und viele Bewohner von Balme ziehen bei dieser Gelegenheit ihre alte Tracht an. Noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde die feierliche Prozession von einem besonderen Glockenspiel (das baoudàtta) begleitet; die Glocken der Pfarrkirche wurden im Wechsel mit einem Hammer und einem Steinbrocken geschlagen.

Die Piazzetta im Ortsteil Cornetti (L’Airàtta)

Cornetti „Li Cournàt” , ein Ortsteil von Balme, gehört zu den höchstgelegenen, ständig bewohnten Orten der Lanzo-Täler (1446m) und zählt zu den wenigen Orten, deren Ensemble erhalten geblieben ist, da dem Ort die sonst für den Straßenbau notwendigen Abrisse erspart geblieben sind.
Das kleine Bergdorf Cornetti gab es bereits im 13. Jahrhundert, als, wie auch in den anderen Orten der Lanzo-Täler, die ersten Bergleute und Schmiede aus Bergamo und dem Sesia-Tal kamen und sich niederließen, um in den Erzbergwerken zu arbeiten. Diese Ansiedlung entwickelte sich im Laufe von Jahrhunderten, und noch heute ist es möglich, im Dorfkern die ältesten Gebäude zu erkennen mit ihren tief eingegrabenen Ställen und den Fenstern auf Bodenhöhe als Schutz gegen die Kälte, wo die Bewohner während der langen Wintermonate mit ihrem Vieh zusammenlebten.
Die Gebäude, die nach dem 18. Jahrhundert errichtet wurden, als der Bergbau bereits zum Erliegen gekommen war und eine Umstellung auf Landwirtschaft erfolgte, sind höher und mit langen Balkonen versehen, wo man Getreide zum Trocknen aufbewahrte, das man auf Grund der Gebirgslage schon vor der vollständigen Reife ernten musste.
Die Gassen des Ortsteils „quintànass“ sind eng und gewunden, um so dem starken Wind und den Schneestürmen trotzen zu können, während die Dachschrägen Schutz gewähren vor den überreichlichen Schneefällen. Im Herzen des Bergdorfes Cornetti liegt die kleine Piazza „Airàtta“ (die kleine Tenne), wo Getreide gedroschen wurde und wo sich auch die Dorfschenke befand, die später zu einem Lebensmittelladen wurde.

Eines der Häuser trägt das Wappen der Castagneri, ein Familienname, der in Balme noch immer am häufigsten vertreten ist; ein Name, aus dem man „Kastanie (castagno) heraushört und der manchmal von dem lateinischen Motto begleitet ist: „pasco bonos pungoque malos“ (ich ernähre die Guten und bestrafe die Schlechten; unter Hinweis auf die Kastanie mit ihrer stacheligen Schale). In einer Gasse erkennt man noch das Schild des Schusters, zu dem einst die Bergsteiger gingen, um weitere Nägel an ihre Bergschuhe anbringen zu lassen, bevor sie die anspruchsvollsten Aufstiege wagten.

Fontana del Corno (der Hornbrunnen)

(Batchàss dou Corn)
Das Becken des Brunnens „Corn” ist jüngeren Datums genauso wie auch das Horn des Steinbocks , das sich darüber erhebt. Der Name hingegen ist uralt und geht direkt auf die Familie Cornetti zurück, deren Name bereits im 13. Jahrhundert belegt ist und dem Ortsteil seinen Namen verlieh.
Das Wasser, das sehr kalt ist und als besonders gut gilt, stammt aus einer Quelle im Wald jenseits des Wildbaches. Einst wurde das Wasser durch Lärchenholzrohre, deren Enden ineinander verkeilt waren (bournèl), zum Brunnen geführt.
Direkt vor dem Brunnen steht ein sehr altes, heute noch benutztes Stallgebäude, das mit einem schlichten Fresko der Jungfrau Maria und diversen Heiligen geschmückt ist. Während der Pest wurde dieses ungewöhnlich geräumige Gebäude als Hospital genutzt. Diesem Zweck diente es letztmals 1919, als die spanische Grippe wütete.

An der Seite befindet sich ein wunderschön geschnitztes Holzgeländer, dessen Bretter jeweils den Namen des Eigentümers CASTAGNERI GIO PIETRO tragen. 1995 wurde die wichtigste Gase des Ortsteils von einem alten Talbewohner, Giovanni Cristofero, genannt „Ninétou,“ kunstfertig gepflastert. Er wandte die alte Technik des „stérni“ an, bei der zerkleinerte Steine in die Erde getrieben werden, die besser als andere moderne Materialien geeignet sind, die Bewegungen des Bodens auszugleichen, der sechs Monate im Jahr mehr als ein Meter tief gefroren bleibt.

Der Wasserfall „La Gorgia“

(La Gòrdji)
Das Haus lou Gouiàt , benannt nach dem nahe gelegenen Teich (lou gòi), in dem man früher den Hanf einweichte, wurde von Antonio Castagneri mit den Einkünften aus seiner Bergführertätigkeit erworben. Er bewohnte es seit seiner Heirat im Jahr 1878. Unweit des Hauses stürzen die Wasser der Stura in einem „La Gòrgia“ (der Schlund) genannten grandiosen Wasserfall zu Tal. Die erste Brücke über den Wasserfall wurde von eben diesem Castagneri erbaut, und zwar auf Veranlassung des italienischen Alpenvereins (CAI), der so eine bessere Sicht auf den Wasserfall möglich machen wollte.
In der Nähe der steilen Felsen, wo die alten Häuser von Balme sich erheben, befinden sich eine Mühle und einige kleine Gebäude (li veilìn), wo das kalte Wasser des Wildbaches dazu genutzt wurde, die Milch zu kühlen, bevor sie zu Butter und Käse verarbeitet werden sollte. Noch näher am Tal, rechts der Stura, sieht man neben dem Wasserfall einen unterhöhlten Gletscher, der zusammen mit dem eisigen Luftzug des Wasserfalls dafür sorgt, dass der Schnee des Winters das ganze Jahr über nicht schmilzt. Ein abgeleiteter Kanal betreibt durch eine Druckleitung ein kleines Elektrizitätswerk unterhalb des Wasserfalls. Es wurde 1909 in Betrieb genommen, funktioniert heute noch und zählt damit zu den ältesten Elektrizitätswerken, die heute noch Strom erzeugen.

Bild Seite 33: Urlauber am Gorgia-Wasserfall ca. 1920

Das Hotel Camussòtt

(Lou Trutchgàtt)

Das Hotel Belvedere Camussòtt, ein für die Turiner Bergsteiger besonders wichtiger Ort, erlangte erstmals Bedeutung im Dezember 1874, als Alessandro Martelli und Luigi Vaccarone dort übernachteten, bevor sie den Uja di Mondrone bestiegen. Dieser denkwürdige Aufstieg markierte den Beginn des Winteralpinismus in Italien. Damals war das Hotel noch ein bescheidener Gasthof mit nur einem einzigen Raum im Erdgeschoss, der sowohl Küche als auch Gastraum war, und einigen eiskalten Zimmern im Obergeschoss.

Noch heute kann man das alte Wirtshausschild sehen, das die Jahreszahl 1817 trägt und das Wappen der Eigentümer der Familie Drovetto, das drei Haspeln aufweist ( in Anlehnung an die französische Version des Namens Drovetto, nämlich Du Rouet). Der Aufschwung des Gasthofs begann mit Giacomo Bricco, genannt Camussòtt, einem Bergführer, der nach der Heirat mit der Tochter des letzten Gastwirts, den Gasthof übernahm. Der Erfolg setzte sich unter deren Sohn Stefano Bricco fort, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ein wahres Kleinod von einem Hotel schuf und dort die Spitze der Turiner Gesellschaft der damaligen Zeit zu seinen Gästen zählte. In den Jahren zwischen 1920 und 1930 hatte das Hotel seine allerbeste Zeit, denn viele wichtige Sport- und Kulturveranstaltungen fanden dort statt.

Das Gästebuch, das im „Nationalmuseum der Berge“ in Turin aufbewahrt wird, enthält viele wichtige Namen des italienischen und europäischen Bergsteigertums, nicht nur berühmte Vertreter aus der Welt der Kulturschaffenden, wie Giosuè Carducci, sondern auch Schauspieler wie Eleonora Duse und Naturwissenschaftler wie Guglielmo Marconi.

Bild Seite 34: Anzeige für das Grand Albergo Belvedere „Camussòtt“ ca. 1925

Die Piazzetta delle Aie

(Ls`Airess)
Ls`Airess bedeutet die Tenne, im Italienischen „Le Aie“, und weist auf den Ort hin, wo Roggen und Gerste gedroschen wurden, die einzigen Getreidearten, die man in Balme wegen der Höhe überhaupt anbauen konnte (und die bisweilen nicht ganz ausreifen konnten). Um nicht ein einziges Korn der wertvollen Ernte zu verlieren, breitete man die Ähren auf großen Stoffbahnen aus Hanf auf dem Erdboden aus. Dann wurden sie mit zwei Stöcken geschlagen/gedroschen, die durch einen Lederriemen miteinander verbunden waren. Männer wie Frauen waren daran beteiligt, wobei letztere während der Feldarbeit große schwarze Filzhüte trugen.
In früheren Jahrhunderten war die Piazza delle Aie der größte freie Platz des Dorfes und der Ort, wo man zu Dorffesten, zur Feier der Heiligen Dreieinigkeit und zu Maria Himmelfahrt am 15. August zum Tanz aufspielte. Bei diesen Gelegenheiten tanzte man die „correnta“ (la courènda) zum Klang der Violine, nachdem der Tanz offiziell durch die Ortsvorsteher eröffnet worden war (roùntri lou bal). Einige Häuser, die in der Nähe der Piazetta della Aie, also der Tenne stehen, weisen bergseitig eine massive Steinstruktur in Form einer Apsis auf oder häufiger noch die Form eines Schiffsbugs, örtlich „tscóma“ genannt. Dies sollte die Gebäude widerstandsfähiger gegen Lawinen machen, die bei starkem Schneefall immer wieder bis in die Ortsmitte vordrangen. 1964 wurde über dem Dorf ein Lawinenschutz aus Beton errichtet, der zumindest für die tiefer gelegenen Gebiete eine gewisse Sicherheit bietet.

An der Südseite der Piazzetta steht ein typisches Beispiel eines ländlichen

Familiensitzes mit einer wunderschönen Tür, auf der der Buchstabe „M“ prangt, die

Initiale der Familie Martinengo, deren Mitglieder seit vielen Generationen Schreiner

und Tischler sind. Weitere Häuser in der Nähe weisen schöne, aus Holz geschnitzte

Verzierungen auf.

Die Cappella della Sindone (Kapelle des “Heigen Grabtuches”

(Lou Rivòt dìi Bep)

Die sich verzweigenden Gassen im alten Ortskern von Balme werden bei ebenem Verlauf „quintànass“ und bei leicht ansteigendem „rivòt“ genannt. Da sie eng und gewunden gebaut sind, bieten sie optimalen Schutz gegen starken Wind und Schneestürme, während die schrägen Dächer der Häuser auch bei heftigen Schneefällen ein Durchkommen ermöglichen. An der Straße taucht ein Bau mit einem charakteristischen Bogen auf, der als das älteste Haus des Dorfs gilt und wahrscheinlich schon vor dem 15. Jahrhundert erbaut wurde. Ursprünglich beherbergte es die älteste Kapelle von Balme. Im Inneren erkennt man noch Spuren von Fresken, die Christus und einige Heilige zeigen, unter ihnen Johannes den Täufer, den Heiligen Petrus und den Heiligen Sebastian. Der Eingang war ursprünglich bergseitig. Nach der Errichtung des befestigten Hauses Routchàss im 16. Jahrhundert wurde die Kapelle verlängert und der Eingang mit dem Bogen auf die Talseite verlegt. Später im Jahr 1612 wurde die Pfarrei eingerichtet. In den darauffolgenden Jahren wurde auf der Talseite die erste Pfarrkirche erbaut und die Kapelle entweiht und zum Stall und Lagerraum umfunktioniert. Es heißt, dass an diesem urtümlichen heiligen Ort einst das heilige Grabtuch „la Sindone“ vorübergehend aufbewahrt wurde, als man es 1535 von Chambéry nach Turin brachte. Aufgrund der erhaltenen Fresken, die in Bessans, einem savoyardischen Ort, der an Balme grenzt, aufbewahrt werden, und der Außenwand von Voragno in Ceres haben namhafte Wissenschaftler die Hypothese aufgestellt, die Reliquie sei über die sehr hohen Pässe, welche die Haute Maurienne mit dem Alatal verbinden, nach Balme gelangt. Dass man einen solchen Weg wählte, der durch die abgelegensten Täler führte, die traditionell von ihnen ergebenen Untertanen bewohnt wurden, hätte sich empfohlen in Zeiten, in denen die katholische Kirche und die herrschende Dynastie in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt waren, da es galt, den Nachstellungen durch Waldenser und Calvinisten zu entgehen.

Bild Seite 36: 1888, der Bergführer Antonio Castagneri vor dem Eingang der Cappella della Sindone

Das einem Fort ähnelnde Haus Rociàs

(Lou Routchàss)

Als 1909 die Wasserleitung nach Turin gelegt wurde, musste der alte Ortskern von Balme weichen, um der Landstraße zum „Pian della Mussa“ Platz zu machen. Das Backhaus, das Waschhaus und zwei alte Kapellen wurden abgerissen. Aber glücklicherweise wurde damals das befestigte Haus Routchàss , das seit mehr als vierhundert Jahren von dem gleichnamigen Felsen aus das gesamte Tal beherrscht, vom Abriss verschont.

Der Bau hat einen typischen Wehrcharakter; dies ist zu erkennen an den winzigen Öffnungen und den einzigen engen und niedrigen Eingang, von dem man in einen schlichten Vorraum aus Stein und dann in einen langen Korridor gelangt. Die zahlreichen Räume, die von dort aus abzweigen, fanden früher Verwendung als Ställe und Wohnräume. Im Inneren des Gebäudes befinden sich außer vielen Treppen auch unterirdische Gänge und Keller, die teilweise in den Fels gehauen sind. Zur Talseite hin, unzugänglich von unten her und auf der Sonnenseite, wirkt das Haus Rouchàs hingegen ganz offen mit seinen überdachten Balkonen, welche die tiefe Schlucht überragen, in der die vom Wasserfall kommenden Fluten des Wildbaches rauschen. Im Obergeschoss befand sich einst ein riesiger Getreidespeicher, in dem die notwendigen Vorräte für das Vieh während der langen Winterzeit gelagert wurden. Ein gewaltiges Dach, gestützt durch Balken von riesigem Durchmesser und bedeckt mit Felsbrocken von ungewöhnlicher Stärke, beherrscht den gesamten Bau und gestattete vor der Zerstörung der Gebäude durch den Straßenbau, dass man zum Brunnen, zum Backhaus, zum Waschhaus und zur Kapelle gelangen konnte, ohne ein einziges Mal ins Freie treten zu müssen. Das war kein zu unterschätzender Vorteil, wenn man sich die Schneemassen vorstellt, in denen Balme regelmäßig versank. Hier war es, wo am Nachmittag des 18.Januar 1885 Fransceco Castagneri, Minoùia (1869 – 1916) von einer Lawine überrascht wurde, die das alte Waschhaus unter sich begrub. In fünf Stunden harter Arbeit grub sich der unglückliche einen mehr als zehn Meter langen Gang durch den Schnee in die Freiheit.

Bild Seite 37: Das befestigte Haus (Lou Routchàss)

Die Legende von Gian Castagnero

(L`couìntess d’Gian dìj Lentch)
Am Ende des langen Korridors des Hauses Routchàss befindet sich eine Tür, die zu Räumen ganz im Inneren des Hauses führten und schließlich zu einem Balkon hoch über dem Tal. Auf einer Wand lässt sich die in den Fels gehauene Inschrift des Erbauers entziffern: „ali 5 magio 1591 me jouan castagnero ho fato la pte casa laus deo.“ (am 5. Mai 1591 habe ich, Gian Castagnero, den Bau dieses Hauses vollendet. Gelobt sei der Name des Herrn).

Gian Castagnero (1550 – 1643), an den sich die Einwohner von Balme als Gian dìj Lentch erinnern, wurde in Voragno di Ceres in eine schon lange im Tal ansässige Familie geboren. Als er später nach Balme zog, kam er schnell zu Reichtum als Bergbau – und Hüttenunternehmer und wurde bald in den Adelsstand erhoben. Etwa zur gleichen Zeit ließen sich andere Zweige der Familie in Savoyen, in Argentinien und in Öles Hurtières nieder, wo sie ebenfalls als Unternehmer immer reicher und mächtiger wurden (die Barone Castagneri von Chateauneuf).

Teils von Verputz überdeckte Fresken stellen Geschichten aus dem Leben von Johannes dem Täufer dar (die Taufe Jesu und das Mahl des Königs Herodes), die anlässlich der Hochzeit seines Sohnes Gioanino mit Anna Genoa von Ala, gemalt wurden. Die Hochzeit wurde mit einem Dispens des Bischofs 1601 in Routchàss gefeiert, da die Braut, schwer erkrankt, sich bereits im Haus des Bräutigams befand. Aufgrund dieses Präzidenzfalls konnte Gian Castagnero die Unabhängigkeit der Gemeinde (1610) und der Pfarrkirche von Balme (1612) erreichen, die bis dahin zu „Ala di Stura“ gehörten.

Die Krankheit der frisch Angetrauten kann zum Zeitpunkt der Hochzeit wohl nicht so schwer gewesen sein, da sie danach eine stattliche Schar von Kindern zur Welt brachte, die sich im Laufe der Jahre mit sämtlichen anderen Familien in Balme ehelich verbanden. Das bedeutet, dass heute sämtliche Einwohner von Balme auf irgendeine Weise mit Gian Castagnero verwandt sind und viele von ihnen heute noch seinen Nachnamen tragen. Über diesen Vorfahren erzählt man sich alle möglichen, merkwürdigen Geschichten, die ihm eine riesenhafte Gestalt und große Gerissenheit zuschreiben. Noch heute werden unterirdische Gänge gezeigt, wo er, wie es heißt, Münzen prägte, aus dem Gold geheimer Bergwerke, die nur er kannte.

Bild Seite 38: Inschrift von Gian Castagnero (1550 – 1643)

Caffè Centrale

1775 wurde die Pfarrkirche von Balme unterhalb des Felssporns der Barma, einem lawinengeschützten Ort, errichtet und stand deshalb mehr als ein Jahrhundert lang in einiger Entfernung vom eigentlichen Ortskern. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden schließlich die ersten Häuser um den kleinen Platz, unter ihnen auch das Caffè Centrale, damals noch „Albergo e Ristorante Delfino“, das zu einem anderen Gasthaus am pian della Mussa gehörte.

Die Gründung des Caffè Centrale geht auf Gian Pietro Castagneri, genannt Giampèrou d`Bruna (1847 – 1929), zurück. Er war ein höchst interessanter Unternehmer und Intellektueller, der als sehr junger Bursche das Dorf verließ (sein Vater fiel in der Schlacht von San Martino), lange Jahre im Ausland arbeitete und erst im Alter von 60 Jahren wohlhabend nach Balme zurückkehrte. Er hatte den Kopf voller Ideen, war gebildet (er hatte die englische Zeitschrift „Herald Tribune“ abonniert) und hatte Frau und zwei Töchter. Er wurde Bürgermeister des Dorfes und errichtete außer dem Caffè Centrale ein Haus im Ortsteil Cornetti, an dessen Fassade Touristen noch immer das schöne Holzgeländer bewundern, das eine Inschrift mit dem Namen des Eigentümers trägt.

In den folgenden Jahren wurde das Caffè Centrale von der Familie Bricco Camoussòtt erworben, den Besitzern des berühmten Hotels, die dieses nach einem schlimmen Brand am 25. November 1991 komplett restaurieren mussten und das sie auch heute noch leiten. Im Caffè sind viele Andenken der traditionellen Kultur von Balme zu bewundern und es gilt als Treffpunkt des franko-provinzalischen Kulturvereins LIBARMENK und des gleichnamigen Vereins für traditionelle Musik, der junge Musiker aus den verschiedenen Dörfern der Lanzo-Täler um sich schart.

Bild Seite 39: Pian della Mussa: Albergo Delfino ca. 1915

I Fré (Li Fré)
„I Fré“ bedeutet die Schmiede. Diese kleine Ortschaft war Jahrhunderte lang, wie der Name schon verrät, von Handwerkern und Eisengießern bewohnt, die darauf spezialisiert waren, die eisenhaltigen Pyritvorkommen zu fördern, die sich auf fast 3000 m Höhe im Hochtal von Servin befanden.
Das Erz wurde gefördert, auf Schlitten hinunter gebracht und in einer Schmiedeesse geschmolzen, deren Überreste auf der Hochebene/auf dem Hochplateau unterhalb des Bergdorfs zu sehen sind. Das geläuterte Eisen wurde danach weiter zu Tal gebracht, wo es zur Herstellung von Schlössern (in Ceres) und Nägeln (in Mezzinile, Pesinetto und Travers) verwendet wurde. Im Mittelalter zog dieser Industriezweig hier und in anderen Ortschaften der Lanzo-Täler eine beträchtliche Anzahl von Einwanderern an, besonders aus dem Sesiatal und den Tälern von Bergamo. Im 17. Jahrhundert kühlte sich das Klima ab. Ein kleiner Gletscher bedeckte die Erzlagerstätten, und die Bergwerke wurden nach und nach aufgegeben, nicht zuletzt auch, weil die Holzkohle knapp wurde, die für die Verhüttung des Erzes nötig war. Die Bevölkerung musste sich nun wieder der Viehzucht und der mühseligen Landwirtschaft im Hochgebirge zuwenden. Im folgenden Jahrhundert hörte der Ort auf, ständig besiedelt zu sein und war nur während der Nutzung der Weiden im Sommer bewohnt. Die Häuser von Fré, bedeckt mit riesigen Steinen und in einer perfekten Trockenmauerbautechnik errichtet, sind Zeugen der Kunstfertigkeit bei der Bearbeitung des Steins, die für die Bergleute typisch ist. Es wird dort auch eine in Stein gehauene Inschrift aufbewahrt (1486 GAC), eine der ältesten im Tal. Wenn man der Ausschilderung des Naturpfades folgt, findet man in der Nähe des Bergdorfes die Überreste einer Alm, die sich vollständig in einer natürlichen Senke (Lou Casoùn) befand, sowie einen Tunnel eines Specksteinwerkes, das bis Ende des 20. Jahrhunderts in Betrieb war. Hoch über dem Bergdorf ragt eine Säule auf, die dem „Heiligen Franziskus“ geweiht ist, und bei dessen Namensfest treffen sich die Einwohner von Balme gerne in Fré, um ein schlichtes Fest zu feiern, bei dem Polenta gegessen und nach der alten, traditionellen Musik der Talbewohner getanzt wird.

Bogone

(Bougoùn)

Die kleine Ortschaft Bogone war vor allem im Frühjahr und Herbst bewohnt und zwar während des Almauf und – abtriebs. Auf halber Strecke entlang des „Maultierpfades“ zum „Pian della Mussa“ taucht, nachdem man mehrere hundert Meter an Höhe gewonnen hat, die schöne Steinbrücke auf, die 1713 erbaut wurde und allen Zeiten und allen Hochwassern getrotzt hat. Die Häuser von Borgone sind beidseitig sehr tief eingegraben, während die neueren Bauten durch eine Konstruktion in Form eines Schiffsbugs gegen Lawinen geschützt sind. Die Lawinen zerstörten im Winter 1974 die alte Kapelle im Dorf. Dem Pfad folgend, sieht man in der Nähe der Alm die „arpòsa dìj mort“, nämlich zwei vertikal errichtete Felsplatten, wo die Bahre abgestellt wurde, mit der die am Pian della Mussa tödlich Verunglückten zu Tal getragen wurden. Dies war ein Zwischenhalt, wo die Träger sich ausruhen konnten, aber er entbehrt auch nicht einer gewissen rituellen Bedeutung.

Von noch weiter zurückliegenden Zeiten erzählen uns die in Stein gehauenen Zeichen am/ beim Cré dou Lou auf der anderen Seite des Tales auf der Spitze des Berggrats, der den Brunnen entlang der Fahrstraße überragt. Dabei handelt es sich um Namen, Daten, ganze Sätze, auch in Patois, aber auchum zwei merkwürdig anmutende Reihen von 13 kleinen, „coppelle“ genannten Einkerbungen im Felsgestein.

Ähnlich rätselhaft und möglicherweise noch älter ist der so genannte „Druidenaltar“, ein großer flacher Felsblock, der sich talabwärts in geringer Entfernung von den Häusern befindet, und zwar rechts des Maultierpfads, der nach Balme führt. Von einem riesigen Steinblock auf den Felsrücken zweigen viele in den Felsen gegrabene Furchen ab, die sich dann mit einigen der großen kreisförmigen Ausbuchtungen verbinden. Ganz ähnlich wie bei anderen “massi a coppelle“ (Felsblöcke mit Einkerbungen), die es in vielen Gegenden der Westalpen gibt, wird dieser Block von einigen Wissenschaftlern als vorchristliche Kultstätte identifiziert.

Bild Seite 41: der so genannte Druidenaltar von Bogone

Chialambertetto (Tchabertàt)

Die Häuser von Chialambertetto kleben an einem riesigen Felsen, der so aussieht, als wolle er jeden Moment von der Südseite des „Uja di Mondrone“ herabstürzen. Die Ortschaft liegt eingezwängt zwischen zwei steilen Schluchten, die vor allem im Winter bei jedem starken Schneefall den Lauf der Lawinen bestimmen. Glücklicherweise sind weder Menschen noch Häuser auf diese Weise jemals zu Schaden gekommen, ganz im Gegensatz zu allen anderen Teilorten von Balme. Nicht zufällig ist die kleine Kapelle der „Madonna vom Schnee“ geweiht, deren am
5. August mit einem Fest gedacht wird.

Die kleine Ansiedlung, die sich ursprünglich Forno di Ala (Ofen von Ala) nannte, bekam später den Namen des Hauses „casa“ oder des Feldes „campo“ eines gewissen Bertetto, der bereits im 14. Jahrhundert erwähnt ist. Die kleine Ortschaft war im Mittelalter als Schmiede für die Eisenverarbeitung gegründet worden. Sie war seit dem 14. Jahrhundert eine unabhängige Gemeinde, wurde aber 1844 der Gemeinde Balme zugeschlagen, innerhalb deren Gebiet sie bis dahin eine Enklave gebildet hatte. Ursprünglich lagen die Häuser weiter oben am Berg, in unmittelbarer Nähe der moderenen Bogenbrücke über den Bergbach Stura, bis schließlich am 17. September 1665 ein riesiger Erdrutsch das gesamte Bergdorf unter sich begrub. Die Überlebenden bauten das Dörfchen weiter talwärts wieder neu auf, wo schon einige Wohnhäuser gestanden haben müssen. Bei dieser Gelegenheit wurde ebenfalls die schon bestehende Kapelle erweitert, deren Firstbalken das Datum 1677 trägt. Der Bau war nicht mehr nach Westen ausgerichtet, sondern nach Süden, zu den Häusern hin, die neu erbaut wurden. Am Ende des Dorfes, in der Nähe des Forellenbeckens, befindet sich ein alter und typischer Tumulusofen, der sich von den sonst im Tal üblichen, die nämlich normalerweise durch ein mit Steinen beschwertes Dach geschützt sind, deutlich unterscheidet.

Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um eine Hinterlassenschaft der aller- ersten Bewohner, die Bergleute und Schmiede fremder Herkunft waren und die über lange Zeit hin ihre eigene ethnische und linguistische Identität bewahrt haben müssen, so wie das bis vor kurzem in Forno di Lemi der Fall war, einem anderen Erz verarbeitenden Dorf im Viù Tal.

Einer Tradition folgend, werden in diesem Teilort von Balme bis heute die schönsten „màiess dou bort“ gefertigt, bestickte Wolljacken, die charakteristisch sind für die Tracht in Balme.

Molette-Molera (L’Moulàttes – La Moulèri)
Die beiden Bergdörfchen Molette und Molera erinnern durch ihre Namen an einen Steinbruch, in dem Mühlsteine gebrochen wurden, die überall in den Lanzo-Tälern Verwendung fanden. Der gleiche Name setzt sich auch in dem Namen der Familie Moletto fort, die über Generationen hin in diesem Ort ansässig war.
Molette ist der erste Teilort, den man erreicht, wenn man in die Gemeinde Balme kommt, und er taucht kurz vor einer Zone auf, die als stark lawinengefährdet gilt. In der Vergangenheit war das Bergdorf bei jedem starken Schneefall durch Lawinen manchmal über längere Zeit von der Außenwelt abgeschnitten. Die 2002 errichtete Zubringerstraße am gegenüberliegenden Hang des Tales sorgt nun dafür, dass der Ort auch bei starken Schneefällen erreichbar bleibt.. Die Häuser von Molera liegen zweihundert Meter höher auf einem Felsvorsprung, der das Tal beherrscht. Wegen der geschützten Lage der Ansiedlung spricht man hier von der „Riviera von Balme“. Dank des besonders günstigen Mikroklimas wachsen hier Baumarten, die auf Höhen von mehr als 1.500 m über dem Meeresspiegel gemeinhin nicht vorkommen, wie z.B. Rosskastanien, Kirsch – und Nussbäume. Am 24. Dezember 1874 brachen von diesem Bergdorf der Bergführer Antonio Castagneri aus Balme mit den beiden Turiner Bergsteigern Alessandro Martelli und Luigi Vaccarone auf, um die „Uja di Mondrone“ zu besteigen, womit sie den italienischen Winteralpinismus begründeten. Beide Ortschaften sind heute im Winter unbewohnt, aber viele ehemalige Bewohner kehren in den Sommermonaten an jedem Wochenende zurück und erhalten damit die Besiedlung des Gebiets aufrecht, deren Ursprünge in die graue Vorzeit zurückreichen.

Bild Seite 43: 24. August 1930. Die Trattoria von Molette.

Die Trattoria Bricco am “Pian della Mussa”

Ein schon fast historisch zu nennender Ausgangspunkt vieler Bergpioniere ist die Trattoria Bricco. Sie steht an einer besonders eindrucksvollen Stelle am „Pian della Mussa“ und ist reich an Erinnerungen an die große Zeit der Bergführer von Balme. Die Trattoria befindet sich in der Nähe von Almhütten, in denen während der kurzen Sommermonate noch immer die Viehherden der Familie Castagneri Touni untergebracht sind. In den Monaten Mai und Juni lässt sich auf den Wiesen hinter dem Lokal ein eindrucksvolles Schauspiel beobachten: zahlreiche Steinbockherden kommen herunter, um die jungen Triebe abzufressen, nachdem sie während der langen Wintermonate auf den hohen Bergen nur das trockene Gras unter der Schneedecke fressen konnten, das der Wind freigeweht hatte.

Der Steinbock, der dort schon seit Urzeiten heimisch ist, war fast bis zur Ausrottung gejagt worden, auch wegen der medizinischen und magischen Kräfte, die der Aberglaube den zu Pulver gemahlenen Hörnern, seinem getrockneten Blut und sogar dem kreuzförmigen Knorpel im Herzen des Tieres, zuschrieb. Die Steinböcke, die im Naturpark des „Gran Paradiso“ nur knapp überlebt haben, sind vor einigen Jahrzehnten ganz ohne fremdes Zutun in die Umgebung von Balme zurückgekehrt, wo sie an den steilen Felsen der „Ciamarella“ und der „Uja di Mondrone“ optimale Lebensbedingungen gefunden haben.

Die Locanda Alpina

Die Locanda Alpina geht auf die Almweide der Bergführerfamilie Castagneri Touni zurück, deren Almhütten genau auf diesem vorderen Teil des „Pian della Mussa“ standen (daher auch „La Mussa d`j Toùni“ genannt).
In den Räumen des Gasthauses werden Fotografien und Bilder aufbewahrt, welche die dortige Bergsteigergeschichte dokumentieren, vor allem von Giovanni Battista Castagneri (1895-1940), Bergführer und Besitzer des Lokals. Bis heute liegt die Leitung des Gasthofes in den Händen dieser Familie.

An den Abhängen des „Roc Neir“, der den oberen „Pian della Mussa“ von dem unteren trennt, erhebt sich das gewaltige Bauwerk des Hotels Broggi (später Savoya), das 1899 im Stil der Belle Epoque (Jugendstil) errichtet wurde, noch vor der Eröffnung der Fahrstraße von Balme zum „Pian della Mussa“. Das Hotel galt damals als eines der luxuriösten Berghotels der ganzen Westalpen. Nach einem verheerenden Brand wurde es in der jetzigen Form wieder aufgebaut. Allerdings wird es seit mehreren Jahren während des Sommers von einem religiösen Orden zur Durchführung von Freizeiten genutzt.

Auf der gegenüberliegenden Seite des „Pian della Mussa“, wo sich früher einmal Weideland erstreckte, befindet sich nunmehr ein Tannenwald, gepflanzt zum Schutz der Quellen für die Turiner Wasserleitung, die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurde. Dazu gehören auch die großen Druckentlastungsbecken, die sich an der Straße zum Alatal befinden.

Die Wasserleitung ist immer noch in Betrieb und versorgt auch heute noch die Stadt Turin mit Wasser, wenn auch nur noch zum Teil. Die Wasserleitung wurde gebaut, nachdem man von dem Plan abgerückt war, eine Talsperre mit einem Wasserkraftwerk zu errichten, die den ganzen „Pian della Mussa“ in einen riesigen künstlichen See verwandelt hätte.

Bildunterschriften – Balme

Titelseite I

Li scartàri dal Valàdess at Lanss –A. Va.L (Leute, Kultur Museen) – Notizen aus den Lanzo-Tälern

Giorgio Inaudi
Balme: das Dorf der Bergführer
Führer durch das Museum „Antonio Castagneri“ Gemeinde Balme – Verlag „Il Punto“

Umschlagseite II

Stammbaum der Familie Castagneri-Touni
Der ONLUS, der von Ehrenamtlichen getragene Kuklturverein für die Lanuo-Täler: AVAL – Menschen, Kulturen, Museen, gegründet 2001 mit dem ziel, die kulturelle Identität der Menschen in den Lanzo-Tälern zu bewahren.

Texte: Giorgio Inaudi

Grafik und Koordination: Giovanni Gugliermetti

Druck: L’artistica Savagliano, September 2002

Titelbild: Die Bergführer Castagneti-Touni Pancrazio, genannt Rìssa und Pietro Maria, genannt Mulòt mit zwei Kindern auf dem Gipfel des Ciamarella (ca. 1910)

Finanzieriung der Veröffentlichung durch die Region Piemont (L.R. 58, 1978) und die Provinz Turin sowie durch den Rotary Club Cirié – Valli die Lanzo.

Bild Seite 1:

Giorgio Inaudi
Balme: das Dorf der Bergführer

Seite 2:

Der Bergführer Antonio Castagneri-Touni, genannt Tòni dii Toùni nach einer Radierung von Carlo Chessa.

Bild Seite 3:

Die Talbewohner arbeiten sich durch die Schneemassen einer Lawine, ca. 1930

Bild Seite 4:

Inschrift eines Schäfers in den Alpe Rossa Bild Seite 5:

Tchinài d’Laventchìa: Inschrift eines Liedtextes mit Noten Bild Seite 6:

Holztransport mit dem Schlitten

Bild Seite 7:

Aufzeichnungen datiert 18. Juli 1726, die bei den Restaurierungsarbeiten der Kuppel der Basilika von Superga (Turin) gefunden wurden.

Bild Seite 9:

Spalte im Arnàssgletscher, ca. 1880

Bild Seite 10:

Gamsjäger, ca. 1950.

Bild Seite 11:

Kristallsucher, zeitgenössische Darstellung

Bild Seite 13:

Franko-provenzialisch sprachiges Gebiet (Zeichnung von Claudio Santacroce)

Bild Seite 14:

Giovanni Castagneri, genannt Gian Giannoùn und Luisa Castagneti, 21. Mai 1933. Bild Seite 15:

Die Musikkapelle von Balme, 25. September 1921.

Bild Seite 17:

Antonio Castagneri (Dritter von links) vor der Eingangstür der Gastaldihütte, ca. 1880.

Bild Seite 18:

Die drei Opfer der Katastrophe am Montblanc.

Bild Seite 19:

Vatikan, 26. Juli 1929! Apostolischen Segen für den Bergführer Michele Bricco, genannt Minassét.

Bild Seite 21:

Bei einem Aufstieg mit Eispickel und cravina, ca. 1880.

Bild Seite 22:

Anzeige für einen Bergstiefel, ca. 1920.

Bild Seite 23:

Eintrag eines Kunden, des Rechtsanwalts Domenico Riccardo Peretti-Griva in das Bergführerbuch von Michele Bricco, genannt Minassét.

Bild Seite 24:

Skifahrer auf dem Weg zum „Pian della Mussa“, ca. 1910.

Bild Seite 25:

Skikurs – Mitglieder der faschistischen Jugendorganisation Balilla, ca. 1930.

Bild Seite 26:

Von links: Pietro Castagneri, genannt L’Aria,Pietro Dematteis, genannt Nissòt und Andrea Castagneti, genannt Brac, ca. 1925.

Bild Seite 27:

Siegerehrung nach einem Skiwettkampf im Hotel Camussòtt. Eugenio Ferrei (Mitte), im Kreis der Bergführer von Balme, ca. 1935

Bild Seite 28:

Torre d’Ovarda:: zwei Bergopfer werden in Leichensäcken geborgen (unten links) durch Mitglieder der Bergwacht von Balme.

Bild Seite 30:

Die Pfarrkirche von Balme, ca. 1902

Bild Seite 31:

27. Juli 1919. Prozession der Heiligen Anna.

Bild Seite 33:

Urlauber am Gorgia-Wasserfall, ca. 1920.

Bild Seite 34:

Anzeige für das „Grand Hotel“ Belvedere „Camussott“, ca. 1925

Bild Seite 35:

1898. Ls’Airess, Tanz beim Fest der Heiligen Dreifaltigkeit.

Bild Seite 36:

1888. Der Bergführer Antonio Castagneri vor dem Eingang der Cappella della Sindone

Bild Seite 37:

Das befestigte Haus (Lou Routchàss) Bild Seite 38:

Inschrift von Gian Castagnero (1550-1643)

Bild Seite 39:

Pian della Mussa. Der Gasthof Delfino, ca. 1915

Bild Seite 41:

Der so genannte Druidenaltar von Bogone

Bild Seite 43:

24. August 1930. Die Trattoria von Molette.

Bild Seite 45:

Pian della Mussa. Hotel Brogli, rechts die Hütten von “Toùni“, die später im Zusammenhang mit dem Bau der Turiner Wasserleitung abgebaut und auf der anderen Seite des Tales wieder errichtet wurden.

Bild Seite 46:

Panorama von Balme, im Hintergrund die Bessanese.

Bild Seite 47:

Das Hotel Belvedere Camussòtt.

Bild Seite 48:

1899. (v. li.) der Bergführer Antonio Boggiatto, genannt „Gloria“, der Pfarrer von Balme und der Bergführer Guiseppe Castagneri, genannt Gep dij Toùni beim Aufbruch zum Gipfel der Ciamarella, um dort eine Madonnenstatue aufzustellen.

Bild letzte Seite:

Die Bergführer von Balme
Balme – das Dorf der Bergführer und sein Ökomuseum